Nibelungenmord
Vertrauen, der Wunsch nach Nähe.
Und da war Margit gewesen, die störte. Nicht weil sie diesen Ehefrauenposten besetzt hielt, den hatte Romina ihr nie geneidet, sondern wegen der Lügen, die ihretwegen nötig waren. Diese Lügen hatten Romina immer gestört, sie waren Anlass zahlloser Auseinandersetzungen gewesen. Und jetzt war dieser Anlass verschwunden, und Michael log weiter. Das befleckte ihn, aber das war nicht das Schlimmste.
Das Schlimmste war, dass er ihr plötzlich nichts mehr bedeutete.
Einem Michael ohne Ehefrau fehlte etwas Substanzielles, das, was ihm Spannung verlieh.
Ich bin verrückt, dachte Romina. Nein, ich bin nicht verrückt, ich bin Brünhild. Verrückt nach Kampf, verrückt nach Wettbewerb. Ich will keinen Mann, ich will Drama. Und ohne Kriemhild, die den Preis hochtreibt, ist Siegfried nichts mehr wert, ein schöner Mann, ein gutgebauter Mann, aber wertlos. Nichts, wofür ich in den Ring steige. Nicht, wenn niemand mit mir kämpft.
Siegfried war das Zentrum. Sein Charisma hatte diesen Kampf entzündet, die Frauen um ihn herum irre werden lassen.
Warum fühlte sie sich jetzt, als sei ihr das alles neu? Sie hatte es gewusst, ganz genau das hatte sie gewusst. Sie hatte es gemalt.
Als sie noch malen konnte.
Immerhin das ist mir geblieben, dachte sie. Die Erkenntnis, dass ich einmal im Leben etwas Echtes gemalt habe, etwas, das der Realität vorausgeeilt war und jetzt von ihr eingeholt wurde.
Es war Zeit für einen Wein. Mit dem neuen Leben konnte sie danach beginnen, später, wenn dieser Nibelungenmist überstanden war.
Sie schaltete die Deckenlampe ein und versuchte, den Moment zu genießen, in dem das Licht ihr Atelier der Dunkelheit entriss. Es war da, und es gehörte ihr.
Es gelang nicht. Immer hatte sich ein Glücksgefühl eingestellt, wenn sie ihr Atelier betrat, die Sicherheit, dass sie etwas zurückerobert hatte, sie, eine ehemalige Künstlerin, die jetzt wieder zu einer geworden war.
Das Gefühl blieb aus.
Alles ist weg, dachte sie. Kriemhild ist weg. Siegfried ist weg.
Passt doch, dachte sie. Passt gut zu einer grauhaarigen Kunstgewerblerin, die in einem heruntergekommenen Kaff grellbunten Schund an holländische Touristen verkauft. Die sich mit dem Dorfschönling einlässt und ihn dann nicht mehr loswird.
Sie hatte gewusst, wie es enden würde. Und sie trat zu den Leinwänden, um sich wenigstens diesen kleinen Sieg zu erhalten: dass sie es gewusst hatte. Dass sie etwas Wirkliches, Wahres erkannt und es gemalt hatte.
Siegfrieds Schuld.
Vorsichtig nahm sie die Nadeln heraus, die die Wolldecke an den hölzernen Rahmen der Bilder fixierten. Sie zog die Decke weg und nahm die beiden vorderen Bilder, die mit den Königinnen, zur Seite.
Dahinter war nichts.
Ein leerer Rahmen, durch den sie den Staub auf dem Boden ihres Ateliers sah, ausgefranste Leinwandreste am Holz.
Jemand hatte Siegfrieds Schuld gestohlen.
*
Nicolettas neue Wohnung lag im dritten Stock eines penibel renovierten Altbaus. Drei Zimmer, Küche, Bad, hatte sie auf der Hinfahrt erklärt. Zu groß für eine Person, befand er.
Mit einem eigenartigen Gefühl des Fremdelns beobachtete er, wie Nicoletta ganz selbstverständlich die Tür aufschloss, achtlos ihre hochhackigen Schuhe abstreifte und ihm voraus in die Küche ging.
Nein, streng genommen verschwand sie hinter der ersten Tür links, aber das saugende Plopp der Kühlschranktür und das Geklingel von Gläsern verrieten ihm, dass es sich um die Küche handelte.
»Prosecco?«
»Gern.«
»Geh ruhig schon mal vor ins Wohnzimmer und mach es dir gemütlich.«
Das Wohnzimmer passte gut zu dem gemeinsam gekauften Sofa. Satt und rotsamten prangte es vor einer bleigrau gestrichenen Wand, die mit einigen dezent gerahmten Fotografien bestückt war. Nicoletta konnte nicht wirklich gut fotografieren, was sie geschickt ausglich, indem sie interessante Ausschnitte teuer rahmen ließ. »In Schwarzweiß sieht alles nach Kunst aus«, hatte sie gegenüber Clara freimütig geäußert und den Ausdruck blanken Entsetzens im Gesicht ihrer zukünftigen Schwägerin mit der ihr eigenen Mischung aus Selbstbewusstsein und Ignoranz übergangen. Wie so oft hatte Jan sie dafür bewundert.
Er wusste genau, warum seine Familie mit Nicoletta nichts anfangen konnte. Es war genau derselbe Grund, aus dem er sie hatte heiraten wollen, aus dem er sie immer noch heiraten wollte.
Er trat an die Wand. Die Bilder musste sie erst kürzlich abgezogen haben, denn er kannte sie nicht. Wohl aber
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