Niccolòs Aufstieg
ihm nur deshalb so viele Bekannte, weil er selbst keinen gewöhnlichen Arbeitstag einzuhalten hatte. Es war seltsam, den Ruf der Glocken zu hören und ihm nicht zu folgen; nicht wie gewohnt das nasse Tuch aus der Küpe zu hieven und es schwankend unter dem Gewicht mit den anderen aufzuhängen, ehe die Glocke zum Mittag läutete; nicht wie gewohnt in der Herde mitzutraben - zum Essen, zum Beten, zur Meldung beim Meister oder bei der Herrin; sich nicht in der Gruppe sicher geborgen zu fühlen. In der Gruppe, der er jetzt angehörte, gab es keine Sicherheit.
Wie vermutet war Felix noch dort, wo er ihn zurückgelassen hatte. Claes gesellte sich zu ihm, weil es sein mußte. Es war kein angenehmer Ort: eine Schenke, in der es keinen Wein gab, nur Bier für Handwerker, die es reichen jungen Bengeln wie Felix übelnahmen, daß sie den ganzen Tag lang die Bänke besetzt hielten und den Wirt mit Beschlag belegten. Felix und seine Freunde hatten bereits gegessen und kräftig getrunken. Jene, die noch aufmerksam genug waren, bemerkten sofort den klaffenden Riß in Claes’ Gesicht und begannen gnadenlos lachend sich gegenseitig mit den tollsten Erklärungen zu überbieten. Als Felix durch Biernebel hindurch den Namen seiner Mutter in Verbindung mit schmutzigen Phantasien genannt hörte, sprang er auf und stürzte sich mit gesenktem Kopf auf den Redenden.
Zu dritt gelang es ihnen schließlich, ihn wieder zu beruhigen und seine Angriffslust auf die allseits beliebte Kegelbahn zu lenken. Unterwegs jedoch besann Felix sich anders und führte sie, auf eisglattem Kopfsteinpflaster und gefrorenen Matschwegen schlitternd, durch leichtes Schneegestöber zum Burgplatz, wo sich frierend und murrend die Lotterieschlange die Stadtkanzlei entlang und halb um St. Donatian herum zog. Mehrere kräftige Männer in der Tracht der Stadtwachen machten paarweise die Runde und sorgten dafür, daß die Schlange geordnet blieb, auch wenn Kälte und Ungeduld den Leuten noch so sehr zusetzten.
Felix blieb stocksteif stehen und musterte grimmig das Gedränge, dann lächelte er plötzlich breit. Beim letzten schweren Schneesturm war er draußen vor der Schenke von einer Gruppe angetrunkener Handwerksburschen überfallen und mit Schneeballen beworfen worden. Und da waren die Kerle jetzt, standen während ihrer Arbeitszeit um Lose an. Und waren praktisch wehrlos, wenn sie nicht ihre Plätze in der Schlange aufgeben wollten.
»Felix!« sagte Anselm Sersanders.
»Felix!« sagte John Bonkle.
Aber Felix, der sich schon gebückt hatte, achtete nicht auf die Freunde, auch wenn er mit dem Werfen wartete, bis der nächste Ordnungswächter sich umdrehte. Er zielte schlecht, und Claes sah erleichtert eine Möglichkeit, ihn abzulenken.
»Es liegt doch noch gar nicht genug Schnee«, sagte er. »Komm, da ist Colard. Er winkt uns.«
Die Buchhändler, von denen viele auch Bücher kopierten und banden, hielten sich gewöhnlich im Hof von St. Donatian auf, aber bei schlechter Witterung packten sie ihre Stände zusammen und gingen hinein. Colards kleine Kammer lag über dem Kreuzgang; die vom Qualm der Kerzen und der Kohlepfanne verräucherte Luft und die beißenden Gerüche der Tinten stellten den Magen jedes Gasts auf eine harte Probe. Und an diesem Tag, einem Arbeitstag, wurden Qualm und Dämpfe vom kalten Schneewind durch das offene Fenster, aus dem Colard ihnen zugewinkt hatte, in die Stube zurückgetrieben.
In den wenigen Minuten, die sie die Treppe hinaufstiegen, hatte er sich wieder an sein Pult gesetzt und die Beine in den Halbstrümpfen um die Stuhlbeine geschlungen. Die Ärmel seines Hemds waren bis zu den Ellbogen hochgeschoben, und sein zerzaustes Haar war auf der Seite, wo es der Kerze beim Schreiben zu nahe kam, angesengt. Seine Hand bewegte sich über das Pergament und die Augen in dem rotwangigen Gesicht hoben sich immer wieder zum lateinischen Original, das am Leseständer lehnte, während er mit leicht vorgeschobener Zunge und großer Sorgfalt eine französische Zeile fertigschrieb.
»Die Reue Adams«, las Felix vor. »Schaut mal! Gibt es Bilder dazu?«
Der Übersetzer verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln, ohne die Zunge verschwinden zu lassen. »Noch zwei Wörter«, sagte er schließlich, »dann bin ich fertig. Wartet. Nein. Keine Bilder.«
»Lügner!« rief Felix. »Ich habe eins gefunden.«
»Leg das weg.«
Unbeeindruckt nahm Felix die entdeckte Miniatur zur Hand und betrachtete sie mit Kennermiene prüfend von allen Seiten.
»Der Adam,
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