Niccolòs Aufstieg
Garten. Es vergehen noch Stunden, bis Mutter kommt.«
Er lag still, das Gesicht vergraben. Soviel zur Selbstbeherrschung. Dann hob er den Kopf und sagte: »Demoiselle.«
»Demoiselle« rief Katelina van Borselen.
Er drehte sich auf die Seite und sah sie an. Jetzt war sie blaß, nicht mehr das blühende Mädchen, das er vorhin verführt hatte; ihre Haut war feucht, das Haar zerzaust, und es lagen blaue Schatten unter ihren Augen.
»Wie kann ich Euch sonst nennen? Ich habe Euch etwas Kostbares genommen. Und Euch, vielleicht, das gegeben, was Ihr wolltet. Wenn es falsch ist, ist es nun einmal falsch. Und mehr als eine Nacht - das wäre Gier, von beiden.«
An ihren Stolz hatte sie bisher nicht gedacht, jetzt tat sie es. »Wenn du ein … Anwalt … wärst, würdest du mich heiraten?«
So entwaffnend, so grausam. Liebevoll nahm er ihre Hand. »Selbst wenn ich ein Anwalt wäre, Ihr steht zu hoch über mir.«
Sie schloß die Augen und öffnete sie wieder. »Es heißt, du seiest klug. Ich halte dich für klüger, als die Leute glauben. Du hättest doch sicher Schreiber werden können? Warum bist du Handwerker?«
»Weil es mir gefällt. Ich habe Lesen und Schreiben gelernt. Doch meine Mutter starb. Ich habe alles, was ich brauche.«
»Du hast vermutlich gelogen, als du sagtest, daß du eines Tages heiraten willst.«
»Ja, es war gelogen. Trotzdem werde ich mich nicht noch einmal zwischen Euch und Euren zukünftigen Ehemann stellen.«
»Willst du nicht?« fragte sie wie ein Kind.
Er setzte sich auf. »Würdet Ihr es von mir verlangen? Von einem Diener?«
Sie hatte sich auch erhoben. »Du bist kein Diener. In meinen Augen bist du Nicholas.«
»Weil ich getan habe, was ich getan habe, wagt Ihr nicht, an mich als Claes zu denken. Aber ich bin ein Diener. Und noch dazu ein schlechter. Ich habe Eure Sinne allzusehr erweckt, Katelina. Doch was mich überkam, wird eines Tages einen anderen überkommen. Ihr braucht keinen perfekten Ehemann. Ihr tragt in Eurem eigenen Leib eine große Lebensfreude. Und das wißt Ihr auch.«
Sie sagte nichts. Sie sah ihm beim Anziehen zu; wahrscheinlich sah sie überhaupt zum ersten Mal einem Mann dabei zu, dachte er. Und sie fragte sich wohl, ob es das letzte Mal sein würde. Es gab nichts, was er hinzufügen oder noch tun konnte. Als er fertig war, trat er ans Bett und sah zu ihr hinunter. Und da sprach sie. »Wenn Jordan de Ribérac das wüßte, würde er dich vermutlich töten.«
Daran hatte er auch schon gedacht. »Er wird es nicht erfahren. Macht Euch keine Sorgen.«
Sie war leichenblaß. »Warum hat er dein Gesicht verunstaltet?«
»Er wollte, daß ich Simon bespitzle. Das habe ich abgelehnt.«
»Warum?«
»Warum ich abgelehnt habe? Weil ich nicht in Verdacht geraten will, wenn Simon umgebracht wird. Eine reizende Familie. Sie hassen einander.« Er dachte einen Augenblick darüber nach.
»Claes?« sagte sie in einem sonderbaren Ton, doch als er sie ansah, fügte sie nur hinzu: »Sei vorsichtig.«
»Natürlich. Aber jetzt muß ich gehen.«
Sie saß ganz still da, das Laken um sich geschlungen wie ein Gewand, aber er versuchte nicht, sie zu umarmen. Statt dessen verbeugte er sich, nahm ihre Hand und küßte sie wie ein Edelmann.
Sie erschauerte, und er verließ sie rasch.
Er hatte nicht bemerkt, daß er sie, ein einziges Mal, Katelina genannt hatte. Und er wußte nicht, was er da getan hatte.
KAPITEL 21
Aschermittwoch über Brügge herauf und aus den Schornsteinen stieg zögerlicher Rauch. Im hellen, wohlgeordneten Haus der Familie Adorne standen die Kinder auf und wurden gewaschen und angekleidet, ehe sie antreten mußten, um mit ihren Eltern, der Hausgemeinschaft und den Gästen der Familie zur Messe in die Jerusalemkirche zu gehen. Danach frühstückten die Gäste und verabschiedeten sich, unter ihnen Marian de Charetty mit ihren beiden Töchtern, die knicksten und jede von der Demoiselle Margriet einen Kuß bekamen.
Die zwei Mädchen, die ungewöhnlich still waren, wurden von einem Diener nach Hause gebracht, während ihre Mutter zum Rathaus ging, wo die Stadtväter an diesem Tag zu einem Festessen mit Süßwasserfisch und gutem Wein einzuladen pflegten. Sie wußte nicht, wie die männlichen Mitglieder ihres Hauses die Nacht verbracht hatten und wo sie sich gerade aufhielten, und es war ihr auch gleichgültig.
Tilde jedenfalls hatte die ganze Nacht geweint. Niemand konnte es Pater Bertouche übelnehmen, daß er die vier kleinen Mädchen nach Hause gebracht hatte. Es
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