Niccolòs Aufstieg
entdeckte die Getreidesäcke im Hof der Mühle, die aufgeschütteten und allenthalben verstreut herumliegenden Körner und stürmte unter den sich drehenden Flügeln hindurch schnurstracks darauf zu.
Julius rief eine Warnung. Er erwartete, daß Nicholas, dem Vogel die Hacken in die Seiten schlagen, ihn am Seil wegziehen, sich schnellstens von seinem Rücken herabrollen würde. Die Windmühlenflügel drehten sich knarrend; verfehlten den Vogel; näherten sich bedrohlich; verfehlten ihn wieder. Der Strauß senkte den Kopf, reckte den Hals, um zu schlucken, schaute sich um, tauchte erneut ab, um zu fressen. Er bewegte sich langsam vorwärts, blieb aber in der Nähe der Mühle, gebannt von der üppigen Tafel, die ihm da bereitet war. Und als sich nun nichts mehr tat und nichts mehr zu tun war, kam Nicholas wieder zur Besinnung.
Aber Julius wußte das nicht. Beunruhigt, ja verärgert sah er Nicholas untätig auf dem nackten Vogelrücken sitzen, mit ausdruckslosem Gesicht, die Hände lose an der Kordel.
Die anderen Reiter beobachteten und warteten ab. Nicht so Julius. Der trieb halb gebückt und mit eingezogenem Kopf sein Pferd unter den Windmühlenflügeln hindurch zu dem körnerpickenden Strauß. Er setzte die Sporen ein, um das Pferd zwischen die Mühle und den Strauß zu drängen und es dann, ohne Rücksicht auf den geöffneten Schnabel und die trampelnden Füße, direkt in die Flanke des Vogels zu jagen. Der stürzte mit wilden Schlägen seiner nackten Flügel fauchend und tretend auf den Hof hinaus, wo die anderen Reiter warteten.
Sie brauchten noch einmal fünf Minuten, um ihn einzukreisen und zu binden. Vorher sprang Nicholas von seinem Rücken. Anfangs konnte er nicht stehen. Julius überließ ihn sich selbst und half lieber dabei, den Vogel sicher gebunden und geführt auf den Heimweg in das Florentiner Gefängnis zu bringen. Die Reiter drehten vorher noch eine Ehrenrunde um Nicholas, und Julius mußte ihm sagen, daß er winken solle.
Er schaute auf und deutete ein Winken an. Er zitterte am ganzen Körper wie ein Kranker, aber nach einer großen Anstrengung oder einem Schrecken ging das manchem so, die Männer würden ihn deshalb nicht geringer achten. Aber schuld war weder Anstrengung noch Schreck, und das Sumpffieber auch nicht. Julius wußte, daß Nicholas den Straußenkäfig selbst geöffnet hatte.
Im ersten Moment hatte er es herrlich gefunden, daß endlich der wilde Claes wieder da war. Aber natürlich konnte die alte Freiheit nie wiederkehren. Und wenn sie für diese eine Stunde zurückgekehrt war, dann aus den falschen Gründen. Er hatte nur einen Moment des Nachdenkens gebraucht, um das zu erkennen. Einen Moment des Nachdenkens zusammen mit dem, was unter der Windmühle geschehen war.
»Fragen wir doch den Müller«, sagte er jetzt, »wo du dich ein bißchen erholen kannst. Und inzwischen lassen wir dir von einem Jungen frische Sachen bringen.«
Er erwartete keine Antwort und bekam auch keine. In so einer Krise hatte Sprache keinen Platz. Er war auf alles gefaßt, aber Nicholas wurde weder ohnmächtig noch weinte er, und er erlitt auch keinen sichtbaren Zusammenbruch. Er setzte sich einfach auf einen Ballen Stroh, als er in der Mühle war, und schlang, von Zeit zu Zeit heftig fröstelnd, die Arme fest um sich. Jemand brachte ihm eine Decke und etwas zu trinken und war so vernünftig, dann wieder zu gehen. Julius setzte sich neben den ehemaligen Färberlehrling und versuchte zu ergründen, was geschehen war. Und dann zu bedenken, was getan werden mußte.
Er, der mit kritischen Ereignissen im Leben anderer von Berufs wegen immer nur indirekt zu tun hatte, sah sich selten in der Rolle des Betroffenen. Er räusperte sich und schaute Nicholas an, aber außer Armen war von ihm nichts zu sehen. »Nun, manche Leute betrinken sich und andere reiten auf Straußenvögeln aus. Aber irgendwann müssen alle zurück ins wirkliche Leben. Ich wüßte nicht, warum du davor Angst haben solltest. Wir sind alle der Meinung, daß du unter den Umständen völlig richtig gehandelt hast. Tobias findet das. Und Gregorio auch. Warum also sollten wir nicht weiterhin gut miteinander auskommen? Ich bin sicher, die Demoiselle denkt genauso.«
Er machte eine Pause, doch Nicholas keine Anstalten, etwas zu sagen. Darauf vertrauend, daß Nicholas’ Gehör in Ordnung war, fuhr Julius in seinem Monolog fort.
»Dumm ist natürlich, daß du dich so leicht hinreißen läßt. Wie … wie Felix früher. Das weiß die Demoiselle auch.
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