Niceville
gesucht. Sie hatten ja mit der ganzen Geschichte nichts zu tun.«
Wieder schwieg ihr Vater.
Kate wartete geduldig.
»Wer hat die Adoption beantragt, Kate?«
»Laut den Unterlagen war es Miles. Sylvia hatte diverse Versuche mit
künstlicher Befruchtung hinter sich. Ich weiß noch, dass Miles Angst hatte, sie
könnte sich umbringen. Wir waren alle ziemlich besorgt um sie.«
»Dann ist Miles also losgegangen, und er hat irgendwie diesen Jungen
gefunden, der tatsächlich auch irgendwie mit ihm verwandt war, einen
unbekannten Jungen in einer Pflegefamilie in Sallytown, dreihundert Kilometer
von Niceville entfernt?«
»Ja, wahrscheinlich. Ist daran irgendwas Ungewöhnliches?«
»Vielleicht nicht? Wie hieß der Anwalt damals?«
»Es war eine Anwältin. Leah Searle.«
»Hast du mal mit ihr gesprochen?«
»Nein, sie ist ein Jahr später gestorben.«
»Woran?«
»Laut ihrer Schwiegertochter ist sie ertrunken.«
»Wo?«
»Nicht im Crater Sink, Dad. Jetzt hör auf – du machst mir Angst.
Willst du sagen, dass es bei Raineys Adoption nicht mit rechten Dingen
zugegangen ist?«
Abermals eine Pause. Ihr Vater schwieg so lange, dass sie glaubte,
die Verbindung sei unterbrochen. Schließlich sagte er: »Kate, macht es euch
etwas aus, wenn ich euch besuche?«
»Aber nein. Wir würden uns freuen. Wann kommst du?«
»Ich könnte in vier Stunden da sein.«
Tony Bock lernt Andy Chu kennen
Bock und Chu hatten vereinbart, sich in einem Lokal namens
The Bar Belle auf dem Dach des Pavillons am Tulip zu treffen. Es gab dort eine
hübsche, sonnige Terrasse mit runden Metalltischen und flatternden
Sonnenschirmen, auf denen Dubonnet und Heineken und Stella
Artois stand. Wie es der Zufall wollte, war es eben jenes Lokal,
in dem Nick und Beau Pause machten.
Bock hatte Wert darauf gelegt, vor Chu dort zu sein – eine gute
Stunde zu früh. Das war ein Agententrick, den er aus Die Bourne Identität kannte. Er setzte sich an einen Tisch an der Brüstung, und zwar so, dass er die
Wand im Rücken hatte. Matt Damon hätte es genauso gemacht. Jenseits der
Teakholzbretter zischte der Tulip wie ein großer brauner Python.
Bock war ganz schwarz gekleidet, weil er fand, das lasse ihn
bedrohlicher wirken – in Wirklichkeit sah er aus wie ein Mann vom
Sicherheitsdienst nach Feierabend. Er bestellte einen Drink, den sie hier
Tequila Mockingbird nannten, serviert von einer jungen Frau mit Brüsten, die
sich ausnahmen wie sahnige Eiskugeln in einer Waffel, und einem Lächeln, das
einem Toten die Lenden gewärmt hätte. Im Augenblick interessierte Bock sich so
wenig für die Kleine, dass er ebenso gut hätte tot sein können, aber auf eine
abstrakte, Wenn-mein-Leben-nur-anders-wäre-Weise war sie nett anzusehen.
Als er kam, waren alle Tische frei, bis auf einen, der ein paar Meter
entfernt stand. Dort saßen ruhig zwei Männer. Der eine, ein Weißer, war schlank
und sah irgendwie furchteinflößend aus. Er trug eine anthrazitgraue Anzughose
und ein gebügeltes schwarzes Hemd. Sein kurzes, schwarzes Haar wurde an den
Schläfen weiß, und er hatte eigenartige graue Augen, die Bock kurz musterten,
als er sich setzte. Ihm war, als hätte ihn der Mann innerhalb von zwei Sekunden
taxiert und eingeordnet.
Dieser irgendwie beunruhigende Typ war in Begleitung eines
Schwarzen, so groß wie das Staatsdefizit und so muskulös, dass er, hätte er
noch mehr Muskeln haben wollen, jemanden hätte anstellen müssen, der sie für
ihn herumtrug. Er saß ein bisschen schief und neigte sich nach links, als hätte
er sich die rechte Pobacke verletzt.
Ein paar Minuten später standen die beiden auf und gingen, lange
bevor Bock den Tequila Mockingbird ausgeschlürft hatte. Der schlanke weiße Typ
bedachte Bock beim Bezahlen mit einem langen Blick.
Vielleicht
spürt man meine Kraft , dachte Bock, bevor der überaus demütigende
Zweck dieses Treffens wieder mit unangenehmer Härte zu ihm durchdrang. Denn
diesbezüglich hatte Bock als lebenserfahrener Mensch, der in einer Krise – die,
wie meist, eine selbstverschuldete war – durchaus zu kühnen Schritten fähig
war, einige Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Erstens war in seiner Hosentasche ein
kleines, geräuschaktiviertes Aufnahmegerät, durch ein fadendünnes Kabel mit
einem Mikrofon verbunden, das wie ein Knopf auf der Tasche seines schwarzen
Hemds aussah. In dieser Tasche steckte, getarnt als Füller, eine winzige
Videokamera.
Außerdem hatte Bock, für den Fall, dass dieser Andy Chu gewalttätig
wurde, eine
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