Niceville
sie ist buchstäblich in
seinen Armen gestorben. Er wollte, dass ich wusste, was ihre letzten Worte
waren.«
»Und hast du es verstanden?«
»Nein, damals nicht. Aber es war … verstörend. Darum habe ich der
Geschichte von dem betrunkenen Fahrer nicht widersprochen, jedenfalls nicht vor
Beth und Reed.«
»Vor mir auch nicht, Dad«, sagte sie.
»Ich weiß. Aber das war der Grund, warum ich wollte, dass ihr euch
von dem Spiegel aus Uncle Moochies Schaufenster fernhaltet. Ihr habt ihn noch,
stimmt’s?«
»Ja«, sagte sie nach kurzem Nachdenken, »ja, er ist oben, im
Wandschrank.«
»Warum habt ihr ihn behalten? Warum habt ihr ihn nicht der
Haushaltshilfe zurückgegeben? Oder Moochie? Oder Delia?«
»Keiner wollte ihn haben. Nach dieser Geschichte mit Rainey konnten
wir ihn nicht verschenken.«
»Dann solltet ihr ihn zerschlagen. In tausend Stücke.«
»Dad … Ich verstehe das nicht. Ich verstehe gar nichts. Warum hast
du aufgehört, darüber nachzuforschen, was früher in Niceville passiert ist?«
»Ich hab damit aufgehört, als eure Mutter gestorben ist.«
»Das war der Zeitpunkt. Aber was war der Grund?«
Er brauchte eine Weile für die Antwort.
»Ich glaube, ich hatte irgendwie das Gefühl, dass es … ungut war.«
»Für wen?«
»Für uns. Die Walkers. Und für die anderen Familien.«
Das war das Wort, das ihr Vater immer benutzte, wenn er von den vier
Gründerfamilien sprach: den Walkers, den Cottons, den Teagues und den Haggards.
Die
Familien.
Als
würden sie alle zusammen den Fluss der Zeit hinuntertreiben, alle im selben
unguten Boot.
»Wieso sollte das ungut sein? Du hast doch bloß im Archiv geforscht.
Warum sollte jemand etwas dagegen haben?«
»Weil ich auf etwas gestoßen bin. Auf etwas, das mich beunruhigt
hat. Als deine Mutter ums Leben kam, habe ich gedacht, dass das, was ihr
passiert ist, vielleicht … irgendwie dazugehörte. Zu diesem Rätsel um all die
verschwundenen Menschen.«
»Dad. Auf was bist du gestoßen?«
»Ich habe etwas gefunden, das all die Fälle von Verschwinden, die
sich im Lauf der Jahre ereignet haben, zu verbinden scheint. Das, was sie
vielleicht alle gemeinsam haben.«
»Und was ist das?«
»Es ist möglich, dass jede Person, die verschwunden ist, auf die
eine oder andere Weise mit einer der Familien verbunden war.«
Kate dachte darüber nach.
»Das ist absurd. Sprichst du jetzt von einem … einem Familienfluch?
Das ist verrückt, Dad.«
»Ich spreche nicht von einem Fluch, nein. Aber die Verbindung ist
da, und es ist der einzige gemeinsame Nenner, den ich finden konnte: Jeder, der
verschwunden ist, war irgendwie mit den vier Familien verbunden.«
»Aber das gilt für beinahe jeden in Niceville.«
»Das habe ich natürlich bedacht. Aber die Korrelation ist höher – es
ist kein statistischer Ausrutscher. Und eigentlich meine ich sogar engere
Verbindungen. Alle Verschwundenen hatten auf die eine oder andere Weise mit
Leuten zu tun, die eine junge Frau namens Clara Mercer kannten.«
»Clara Mercer? Ich … Kenne ich den Namen? Da war doch mal was … Hat
sie sich nicht umgebracht? Ist sie nicht in den Crater Sink gesprungen?«
»Niemand weiß, was mit ihr passiert ist. Sie war eine entfernte
Verwandte von uns. Ziemlich lebenslustig. Vor dem Ersten Weltkrieg war sie noch
eine junge Frau und hatte eine Affäre mit einem Teague, der viel älter war als
sie. Sie wurde von ihm schwanger.«
»Oje. Damals war so was …«
»Ja. Eine unverheiratete Frau war damit praktisch erledigt.«
»Was ist aus dem Kind geworden?«
Wieder eine Pause.
»Clara wurde für eine Weile weggeschickt. Das war 1913 oder so. In
eine Privatklinik in Sallytown. Als sie zurückkehrte, hatte sie kein Kind. Man
sagte, sie habe eine Fehlgeburt gehabt, und beließ es dabei.«
»Weißt du, wie der Mann hieß, der ihr das angetan hat?«
»Abel Teague. Er war ein Windhund. Er hat sich geweigert, sie zu
heiraten, obwohl er von mehreren ihrer Freunde zur Rede gestellt wurde. Er ist
mit irgendwelchen Tricks etlichen Duellen ausgewichen. Anscheinend weiß niemand
genau, wie ihm das gelungen ist.«
»Und was ist mit Clara passiert?«
»Soweit ich das herausfinden konnte, hatte sie nach ihrer Rückkehr
das, was man damals einen Nervenzusammenbruch nannte. Ihre Familie hat sich um
sie gekümmert –«
»Wer genau?«
»Ihre ältere Schwester Glynis –«
» Glynis ?«
»Ja, so hieß sie. Warum?«
»Du weißt, warum, Dad. Ich habe dir erzählt, dass auf der Rückseite
des
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