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Niceville

Niceville

Titel: Niceville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Stroud
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wohlhabend sein, aber man muss immer Angst
vor der Regierung haben. Diese Regierung hat absolute Macht über alle. Wenn
das, was man tut, der Regierung nicht gefällt, geschehen schreckliche Dinge,
und es gibt nicht die kleinste Hoffnung auf Gnade. So kann ein Mensch nicht
leben. Es ist erniedrigend. Es macht die guten Menschen zu Feiglingen und die
schlechten zu winselnden Spitzeln. Ich weigere mich, so zu leben.«
    Er verstummte und schien etwas Dunkles zu sehen, dessen Schatten
über sein Gesicht glitt. Er schüttelte den Kopf, und seine Miene hellte sich
wieder auf.
    »Trotz der Schwierigkeiten, die ich mit meinem gegenwärtigen
Arbeitgeber habe – er ist ein sehr unangenehmer Mensch –, gefällt es mir hier
viel besser als dort, und ich werde nicht nach China zurückgehen und wie ein
Sklave leben, nur weil Byron Deitz mich nicht mag.«
    »Byron Deitz? Von dem habe ich gehört.«
    »Ja? Ist er in Niceville ein mächtiger Mann?«
    »Ja. Ihm gehört ein großes Sicherheitsunternehmen.«
    »Sehr richtig. Er ist mein Boss. Außerdem ist er ein Verräter an
Ihrem Land. Und dafür werden wir ihn bestrafen.«
    »Wir?«
    »Ja. Sie und ich.«
    »Wie?«
    Chu brauchte nur ein paar Minuten, um es zu erklären. Als er geendet
hatte, fielen Bock zahlreiche Einwände ein, die sich jedoch letztlich in zwei
Sätzen zusammenfassen ließen: Auf gar keinen Fall und Sind Sie eigentlich
vollkommen verrückt?
    »Ja«, sagte Andy Chu lächelnd, »bin ich.«

Lenore
    Nach dem Telefonat mit Kate arbeitete Dillon Walker noch
eine Weile an einer Textdatei. Vor dem Fenster seines Büros in der Preston
Library lagen der Exerzierplatz und die im Stil der vierziger Jahre errichteten
Gebäude im sanften Nachmittagslicht.
    Es war ein schöner Tag gewesen, kühl, aber sonnig, nur über den Blue
Ridge Mountains hatten ein paar Wolken gehangen.
    Zwischen den Bücherwänden hörte er durch das halb geöffnete Fenster
den rhythmischen Sprechgesang einer Kadetteneinheit, die über den Platz trabte:
das regelmäßige Stampfen der Füße, die Worte, die ihm so vertraut waren wie
damals, als er selbst sie gelernt hatte, vor vielen Jahren, als junger Soldat
in der 101st Airborne. Er lauschte dem Wechselgesang. Arthritis hatte die Hände
auf der Tastatur steif und knotig gemacht, so dass das Tippen schwerfiel. Es
war nicht leicht, in ihnen die Hände zu sehen, die an jenem Tag im Juni 1944
mit festem Griff die Steuerleinen des Fallschirms gehalten hatten, an dem er
dem Gemetzel in der Normandie entgegengeschwebt war. Damals hatte er es nicht
gewusst, aber er war kaum einen Kilometer von seinem Freund Gray Haggard
entfernt gewesen, der sich zur selben Zeit mühte, nicht in der blutigen
Brandung am Omaha Beach zu ertrinken.
    Der Sprechgesang entfernte sich, eine kühle Brise ließ die Jalousie
rasselnd erbeben und wirbelte die Papiere auf dem großen Schreibtisch aus
Rosenholz durcheinander.
    Er speicherte die Datei, gab den Druckbefehl, hörte, wie der Drucker
zu arbeiten begann, und stellte die Nachbildung einer Bürgerkriegskanone auf
den Papierstapel. Aus dem Halbdunkel des Korridors vor der Tür rief jemand
seinen Namen. Das war eigenartig, denn samstags war das Gebäude eigentlich
geschlossen – die Kadetten exerzierten, und in der Bibliothek war normalerweise
niemand.
    Er lehnte sich in den quietschenden Stuhl zurück und horchte.
»Hallo? Ich bin hier. Wer ist da?«
    Stille, und dann hörte er sie wieder, eine leise, flüsternde Stimme,
vertraut und zugleich sehr fremd.
    Ein Muskel in seiner Wange zuckte, und er legte zwei Finger an den
Hals und ertastete seinen Pulsschlag.
    Er war vierundsiebzig, und wenn er sagte, er sei nicht sonderlich
krank, dann hieß das bloß, dass er auch nicht sonderlich gesund war.
    Er kannte die Stimme, auch wenn er sie seit Jahren nicht gehört
hatte. Es war die Stimme von Lenore, und darum überprüfte er, als rational
reagierender Mann, seinen Puls, denn offenbar hatte er gerade eine Art Anfall.
    Er griff nach der Wasserflasche auf der Anrichte, trank einen
Schluck und suchte in einer Schublade nach Aspirin. Wieder war die Stimme zu
hören, näher jetzt, und im Milchglas der Tür zeichnete sich eine schlanke
Gestalt ab.
    Er beobachtete sie, es war die Gestalt einer jungen Frau, die
entweder ein enges helles Kleid trug oder nackt war. Er sah, wie sie die Hand
hob und einmal leise anklopfte.
    »Dilly, ich bin’s, Lenore. Es ist Zeit, Schatz. Wir müssen gehen.
Alles ist fertig, alle warten auf uns.«
    Ein

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