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Niceville

Niceville

Titel: Niceville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Stroud
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Angstschauer überlief ihn, doch er, dem jede Form von Feigheit
zuwider war, unterdrückte ihn sogleich.
    Dilly.
    Lenore
hat mich immer Dilly genannt.
    Er erhob sich und ging um den Tisch herum. Vor der Tür blieb er
stehen, sah sich mit leisem Bedauern in dem Raum um, wandte sich dann dem
Schreibtisch zu und erwartete halb, seinen über den Papieren zusammengesunkenen
Leichnam zu sehen. Doch der Stuhl war leer, und er stand in Slippern, der
bequemen olivgrünen Kordhose und dem schwarzen Polohemd da und fühlte sich sehr
lebendig.
    Jetzt, da er der Tür näher war, sah er, dass die Gestalt eindeutig
nackt war und große Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Frau hatte. Wieder
klopfte sie, wieder rief sie seinen Namen.
    Sie
benutzt die Spiegel , hatte Lenore im Sterben gesagt. Sie
benutzt die Spiegel.
    Er spürte, dass er vor einer Offenbarung stand, dass ihm etwas
enthüllt werden würde, etwas Seltsames, etwas Mächtiges, etwas, das … da
draußen war.
    Die Tür nicht zu öffnen, wäre ein Akt der Feigheit gewesen, ein
kleinmütiger, gieriger Versuch, noch ein kleines bisschen Leben
herauszupressen. Seine Arbeit war nicht getan, aber ein anderer würde sie
fortsetzen. Niemand war unentbehrlich. Er dachte an Kate, an Reed, an Beth, an
Rainey Teague und seine Adoption, an Miles und Sylvia und an das Seltsame, das
Niceville so tief durchdrang. Wenn das hinter dieser Tür tatsächlich Lenore
war, würde ihm alles Verborgene enthüllt werden, und irgendwann würde er seine
ganze Familie wiedersehen. Früher oder später war für jeden die Zeit des
Abschieds gekommen.
    Er öffnete die Tür und dachte, er würde Lenore sehen, stattdessen
flog ihn eine Finsternis an: schwarze Schwingen, rasiermesserscharfe Schnäbel,
reißende Klauen, gelbgrüne schimmernde Augen, eine überwältigende, von Hass und
Rachsucht genährte Kraft. Das Fressen begann. Wie Gray Haggard lebte auch Dillon
Walker noch viel zu lange.

Kate bekommt Besuch
    Lange saß Kate da und weigerte sich, darüber nachzudenken,
was ihr Vater über die Spiegel gesagt hatte. Sie weigerte sich, auch nur zu
versuchen, einen tieferen Sinn darin zu finden. Sie lehnte den Kopf an, schloss
die Augen und spürte eine warme Welle der Müdigkeit.
    Sie schlief ein.
    Das Telefon läutete.
    Sie griff danach und sah auf das Display: LACY STEINERT .
    »Lacy?«
    »Hallo, Kate. Entschuldige, dass ich dich zu Hause störe.«
    »Du klingst angespannt.«
    »Nein, ich bin nicht angespannt. Ich versuche, Nick zu erreichen,
aber der geht nicht ans Handy. Tig sagt, er arbeitet an einem Vermisstenfall
und wollte ein paar Blutflecken überprüfen lassen, aber im Labor ist er auch
nicht.«
    Kate sah auf die Uhr: Nach vier – sofern nicht alles schiefging,
würde er gegen neun zu Hause sein.
    »Normalerweise macht er um diese Zeit Pause. Du könntest es im Bar
Belle auf dem Pavillon versuchen, da geht er am liebsten hin. Soll ich dir die
Nummer geben?«
    Lacy zögerte.
    »Nein, ist nicht nötig. Ich habe ihm eine Nachricht hinterlassen.
Früher oder später wird er sich schon melden.«
    »Okay. Tut mir leid. Ist es denn dringend?«
    »Nein. Aber ich dachte, er würde es wissen wollen.«
    »Gute Nachrichten? Die könnte er gebrauchen.«
    »Bis jetzt weiß es noch niemand, also behalt es für dich, bis ich
Nick erreicht habe. Dich betrifft es ja auch, denn du bist der gesetzliche
Vormund. Es geht nämlich um Rainey Teague –«
    »Oh, nein. Er ist doch nicht etwa gestorben?«
    »Nein. Er ist aufgewacht.«
    »Was?«
    »Ja. Ich meine, er hat sich nicht auf einmal aufgesetzt und um einen
Keks gebeten. Die Ärzte sind bei ihm. Aber er ist aus dem … wie auch immer es
heißt aufgewacht und … ansprechbar, wie die das nennen. Du erinnerst dich doch,
dass ich dir von Lemon Featherlight erzählt habe.«
    »Ja. Er wollte mit Nick sprechen.«
    »Lemon hat ihn gefunden. Als Rainey aufgewacht war, meine ich. Lemon
wollte ihn besuchen, nachdem er heute Morgen mit Nick gesprochen hatte. Hat
Nick dir davon erzählt?«
    »Nein. Was wollte Lemon bei Rainey?«
    »Lemon und Rainey waren befreundet. Ich weiß, das klingt komisch,
aber die Sache mit Rainey hat Lemon damals ziemlich mitgenommen, und nach dem
Gespräch mit Nick hat er beschlossen, zum Krankenhaus zu fahren und Rainey zu
besuchen. Vielleicht weil es heute genau ein Jahr her ist oder so. Lemon ist
ein seltsamer Typ, aber er hat ein gutes Herz. Jedenfalls, als er auf die
Intensivstation kommt, stehen die Schwestern um das Bett herum, die

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