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Niceville

Niceville

Titel: Niceville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Stroud
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Fingerspitze berührte.
    »Es ist keine große Kugel. Sie haben Glück gehabt, dass sie nicht
die Wirbelsäule erwischt hat. Gut, das war’s fürs Erste.«
    Sie richtete sich auf und gab ihm ein trockenes Handtuch. Während er
sich abtrocknete, öffnete sie die Tür und trat beiseite, um ihn einzulassen.
    Das Haus wirkte, als wäre es seit der Weltwirtschaftskrise nicht
mehr renoviert worden. Es war spärlich und hauptsächlich mit Holzmöbeln
ausgestattet, hier und da lagen ovale Häkelteppiche in Rostrot, Grün und
Goldgelb. Vor dem großen gemauerten Kamin, in dem ein Feuer brannte, stand ein
breites braunes Ledersofa, und auf dem Kaminsims sah Merle ein paar gerahmte
Fotografien.
    Über dem Kamin war ein Gestell für vier Gewehre. Zwei davon waren
Winchester – ein Karabiner und eine lange Flinte mit einem langen Zielfernrohr –, beide mit achteckigen Läufen, wie er bemerkte. Antik, aber in erstklassigem
Zustand. Darunter hing eine sehr alte Vogelschrotflinte, ebenfalls ein
Vorderlader.
    Und ganz oben sah Merle eine lange, eckige und gefährlich wirkende
Waffe, die möglicherweise eine BAR war, eine Browning Automatic
Rifle Kaliber .30-06, ein vollautomatisches Monster, dass die Armee seit dem
Zweiten Weltkrieg ausgemustert hatte.
    Merles dunklere Seite rechnete kurz nach und kam zu dem Ergebnis,
dass allein auf diesem Gestell gut fünfzigtausend Dollar hingen, doch er schob
diesen Gedanken rasch beiseite. Er hatte bereits genug Schwierigkeiten.
    Wie es aussah, wurde in der Küche gegessen, an dem großen, auf
Böcken ruhenden Tisch. In der Küche waren auch ein Holzofen und eine Art
Eisschrank aus den dreißiger Jahren. Ein Esszimmer war nirgends zu sehen. Eine
schlichte Holztreppe führte zu einem Absatz und von dort in rechtem Winkel
weiter in die Dunkelheit des ersten Stocks. Von irgendwoher ertönte dünn und
knisternd Musik, ein Jazz-Stück mit vielen Bläsern. Ohne dass er hätte
nachdenken müssen, fiel ihm der Titel ein: Moonlight Serenade von Glen Miller.
    Er sah sich ein paar Sekunden lang um und blickte dann auf die
abgetretenen Dielen des Küchenbodens, als diese Dielen ihm irgendwie
entgegenzukommen schienen, erst ganz langsam, aber dann mit zunehmender
Geschwindigkeit. Er spürte, dass die Hände der Frau nach ihm griffen, doch sie
war nicht schnell genug. Er fiel wie jemand, der von einer Klippe gesprungen
ist, schlug hart auf und verlor das Bewusstsein, und damit war Merle Zanes
Freitagnachmittag offiziell beendet.

Cokers Schicht endet dramatisch
    Cokers Schicht dauerte weit länger, als er es sich
gewünscht hätte, aber sämtliche dienstfreien Kollegen waren erschienen, um bei
der Suche nach den Tätern zu helfen und die Hinterbliebenen zu trösten, und es
hätte ziemlich schlecht ausgesehen, wenn er bei all dem testosterongesättigten
Gequatsche von Korpsgeist und verschworener Gemeinschaft und den damit
verbundenen Äußerungen heiligen, gerechten Zorns nicht mitgemacht hätte.
    Gegen elf fuhren er, Jimmy Candles und Mickey Hancock, der
Schichtführer, zum »Cedars of Lebanon«-Hospital, um mit den Familien der
erschossenen Kollegen zu sprechen.
    Man hatte die Leichen dorthin gebracht, um eine Autopsie vorzunehmen – der Abschlussbericht wurde gerade geschrieben – und den üblichen CSI -Zirkus
zu veranstalten.
    Coker machte sich keine großen Sorgen, dass sie etwas Verwertbares
finden würden. Ernsthafte Aufklärungsarbeit leisteten diese CSI -Affen
nur im Fernsehen.
    Und selbst wenn sie feststellten, aus welcher Art von Waffe die
Schüsse abgegeben worden waren – in den guten alten USA gab es, dank der National
Rifle Association , jede Menge Barrett Fifties in der Hand von
Zivilisten.
    Billy Goodhews heiße junge Frau war da und sah verheult aus. Billy
Goodhew war ein etwas dämlicher, aber mutiger und hochmotivierter Typ mit zwei
kleinen Töchtern namens Bea und Lillian gewesen und hatte in dem Wagen hinter
dem dunkelblauen Straßenfeger gesessen. Cokers zweiter Schuss hatte ihn genau
ins Gesicht getroffen. Er hatte den Jungen gemocht, aber es hatte sein müssen –
was sollte man da machen?
    Was machte man, wenn ein Haufen Geld herumlag?
    Man nahm es.
    Die Welt war schlecht, und man musste nach seinen Interessen
handeln. Cokers Interesse war es, nie so bettelarm und unglücklich zu werden
wie seine Alkoholiker-Eltern.
    Was dem Beruf des Polizisten oder Soldaten den Nimbus des Heroischen
sowie einen gewissen Nervenkitzel verlieh, war nach Cokers fester Überzeugung
letztlich die

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