Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Niceville

Niceville

Titel: Niceville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Stroud
Vom Netzwerk:
blinkenden
Handymasten auf dem Felsmassiv, das die Stadt überragte. Dies war seine Stadt. Er hatte sich hier ein gutes Leben aufgebaut, und diese Wichser, die ihm
das verdammte Ding gestohlen hatten, würden ihre Tat schwer bereuen.

FREITAGABEND

Merle Zane und die Frau im Wald
    Nachdem er den ganzen transzendentalen Mist aufgegeben
hatte, entdeckte Merle die weit einfachere Alternative, vor Schmerzen das
Bewusstsein zu verlieren. Das barg gewisse Risiken wie Schock und Tod, doch
Merle kam zu dem Schluss, dass der Tod zwar in vielerlei Hinsicht unangenehm
war, allerdings den Vorteil hatte, ein schmerzloser Zustand zu sein.
    Er schloss die Augen, ließ den Kopf nach hinten sinken und begann die
Taue zu kappen, wie Seeleute sagen, die leise und ohne den Anker zu lichten den
Hafen verlassen wollen.
    »Alles in Ordnung?«, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Es war nicht
die gemeine, schneidende Stimme, die ihn immer kritisierte und beschuldigte und
die, wie er vor langer Zeit herausgefunden hatte, Murielle, seiner Großmutter
mütterlicherseits, gehörte, einer Frau, die ihn schon immer – und nicht ohne
Grund – missbilligt hatte.
    Merle schlug die Augen auf.
    Es war beinahe vollständig dunkel, der letzte Rest des goldenen
Tempellichts war im Schwinden begriffen. Dennoch konnte er genug sehen, um eine
schlanke Gestalt zu erkennen, die vor ihm stand und auf ihn herabsah.
    Erwischt ,
sagte er, fast erleichtert. Jetzt würde er ärztlich versorgt werden. Wenn man
auf der Flucht starb, war einem die Flucht allerdings eigentlich nicht
gelungen, oder?
    Er fand dieses Argument überzeugend und setzte sich mit einiger
Anstrengung auf. Blinzelnd musterte er die Gestalt. Als er sich bewegte,
durchfuhr ihn ein schrecklicher Schmerz, und er verzog das Gesicht. Die Gestalt – zu zierlich für einen Bullen – trat rasch einen Schritt zurück und richtete
etwas, das wie ein Kleinkalibergewehr aussah, auf ihn.
    »Was ist los mit Ihnen?«, sagte die Stimme, eine Frauenstimme mit
einem weichen Virginia-Akzent. Sie klang wachsam, aber nicht direkt feindselig.
    »Ich bin angeschossen worden«, sagte Merle und versuchte, seine
Beine zu bewegen und die Welt davon abzuhalten, sich nach links zu neigen. »In
den Rücken.«
    »Wer hat auf Sie geschossen?«, fragte die Frau. »Federals?«
    »Nein«, sagte Merle. Aus dem misstrauischen Ton, in dem die Frau
»Federals« gesagt hatte, schloss er, dass sie vermutlich nichts mit den Bullen
zu tun hatte.
    »Nein, nicht die Feds. Ein Geschäftspartner.«
    »Hat Sie in den Rücken geschossen?«
    »Ja.«
    »Klingt nach einem schlechten Partner.«
    Merle versuchte ein Lächeln.
    »Den Eindruck habe ich auch.«
    Möglicherweise lächelte sie ebenfalls. Es war zu dunkel, um es genau
erkennen zu können, aber in ihrem Gesicht leuchtete etwas auf.
    »Ich hab Sie durchs Unterholz brechen hören und dachte, es wäre
vielleicht ein verletzter Hirsch. Können Sie aufstehen?«, fragte sie nüchtern,
wachsam. Sie trat einen Schritt zurück, das Gewehr ruhig in der Hand. Es zielte
nicht direkt auf ihn, aber mehr oder weniger in seine Richtung.
    »Ich glaube schon.«
    »Dann tun Sie’s mal.«
    Merle stützte sich mit der Hand auf, was das Rollen der Erde zum
Stehen brachte, drehte sich nach rechts, brachte ein Knie auf den Boden und
schaffte es, auf alle viere zu kommen.
    Er legte eine Hand an den Baumstamm, nahm seine Kraft zusammen und
stemmte sich hoch. Die Welt um ihn drehte sich und kam langsam zur Ruhe. Seine
Jeans waren mit Blut vollgesogen, und in den Stiefeln schmatzte es, als er sich
zu der Frau mit dem Gewehr umdrehte.
    Das Licht schwand, doch er sah, dass sie zwar zierlich war, aber
eine gute Figur hatte. Schulterlanges dunkles, vielleicht schwarzes Haar,
Jeans, schwere Stiefel, ein kariertes Hemd. Im hereinbrechenden Dunkel der
Nacht schien ihre Haut zu leuchten.
    »Lassen Sie mal die Wunde sehen.«
    Merle drehte sich um und hob das blutgetränkte Hemd. Sie beugte sich
vor, musterte das schwarze Loch in seinem Körper und richtete sich auf.
    »Hässlich. Ich sehe keine Austrittswunde. Wenn die Kugel da drin
ist, muss sie raus. Haben Sie Bargeld?«
    Die Ironie der Situation entging Merle nicht: Er hatte einen
tollkühnen bewaffneten Banküberfall durchgezogen, war nach der Ermordung von
vier Bullen einer intensiven Fahndung entgangen und hatte von einem seiner
Kumpane eine Kugel in den Rücken gekriegt, nur um jetzt wie ein Anfänger von
einer Zigeunerin mit einem Kleinkalibergewehr ausgeraubt zu

Weitere Kostenlose Bücher