Niceville
Merle sah, dass sie zwar nicht hübsch war – dazu waren ihre
Gesichtszüge zu hart –, aber auf jeden Fall sehr attraktiv.
Sie trug keinerlei Make-up. Die Hände, die das Gewehr hielten, waren
rau und gerötet, und die Ränder unter den Fingernägeln sahen aus wie von
getrocknetem Blut.
Sie merkte, dass er ihre Hände betrachtete, und lächelte. Als sie
das tat, schätzte Merle sie nicht mehr auf Mitte zwanzig, sondern Anfang
dreißig. Ihre Zähne waren unregelmäßig, und zwischen den oberen Schneidezähnen
war eine kleine Lücke.
»Ich hab gerade Hühner geschlachtet, als ich Sie da unten im Tal hab
herumstapfen hören. Ziehen Sie sich aus und kommen Sie in die Küche, dann werde
ich mal sehen, was ich für Sie tun kann.«
Merle zögerte.
»Sie werden nicht das ganze Blut und den Dreck durch mein Wohnzimmer
schleppen, mein Freund.«
Sie stellte das Gewehr und die khakifarbene Segeltuchtasche neben
der Tür ab. Im Licht der Glühbirnen sah Merle eine verblasste, aber noch
lesbare Aufschrift auf der Tasche.
1 st INF DIV AEF
Sie richtete sich auf und sah ihn verwundert an.
»Was für einer sind Sie denn überhaupt? Sie sehen aus wie ein
Franzose.«
»Mein Vater stammt aus Marseille«, sagte Merle. »Meine Mutter ist
aus Irland, aus Dublin, und ich bin in Harrisburg geboren – so gesehen, weiß
ich nicht so recht, was für einer ich bin.«
»Dann sind Sie Amerikaner, schätze ich«, sagte sie, und über ihr
hartes Gesicht glitt ein schwaches Lächeln.
»Nur nicht so schüchtern«, sagte sie und zeigte auf das Hemd. »Ich
hab schon mal einen nackten Mann gesehen.«
Mit ihrer Hilfe gelang es ihm, die blutigen Stiefel auszuziehen. Mit
einem Ausbeinmesser, das sie im Gürtel trug, schnitt sie ihm die
Kleidungsstücke vom Leib, die sich nicht anders entfernen ließen. Schließlich
trat sie zurück und musterte ihn kritisch.
»Was haben Sie da?«, sagte sie und zeigte auf die dunkle Brandnarbe,
die von Merles linker Brust bis zum Hals reichte.
Er hob die Hand und strich darüber. Er hatte die Narbe seit einer
langen betrunkenen Nacht in Phuket, wo er hinter einer Hure eine Treppe
hinaufgegangen und gestolpert war. Er hatte die Laterne fallen gelassen und das
Bambushaus in Brand gesetzt.
Die Verbrennung hatte er sich zugezogen, als er in das brennende
Haus gelaufen war, um die Hure zu retten, die, kaum dass sie draußen und in
Sicherheit gewesen waren, mit den Fingernägeln auf ihn losgegangen war, weil er
ihr Geschäft in Rauch hatte aufgehen lassen.
»Ich hab mich verbrannt«, sagte er. »Bei einem Feuer«, fügte er
überflüssigerweise hinzu. Sie schüttelte den Kopf und öffnete den Mund, als
wollte sie etwas sagen, sagte aber nichts. Dann setzte sie die nüchterne
Musterung seines Körpers fort.
»Sie halten sich ganz gut in Form«, sagte sie. »Kein Fett, schöne
Muskeln. An der Schulter haben Sie einen Riss, sieht aus wie ein Streifschuss.
Hat er zweimal auf Sie geschossen?«
»Mehr als zweimal.«
»Tatsächlich? Und haben Sie zurückgeschossen?«
»Fünfzehn Schuss. Mindestens einmal muss ich ihn getroffen haben.«
Das schien ihr zu gefallen.
»Gut für Sie. Obwohl ein Treffer auf fünfzehn Schuss nicht gerade
für Ihre Schießkünste spricht. Sie brauchen wahrscheinlich mehr Übung.«
»Er hat dabei auf mich geschossen. Das ist gar nicht gut für die
Konzentration.«
»Das stimmt. Sie haben ein großes, hässliches Loch im Rücken. Legen
Sie die Hände an die Wand.«
Merle gehorchte. Er hatte etwas gegen diese Haltung – sie erinnerte
ihn an die Verhaftung in Cocodrie und die Durchsuchungen durch die Aufseher in
Angola –, stellte aber fest, dass es besser war, sich abzustützen.
Sie ging hinein, und er hörte, dass sie den Wasserhahn aufdrehte.
Der Generator hinter der Scheune lief schneller, was bedeutete, dass die
Wasserpumpe elektrisch betrieben wurde.
Er hatte keine Telefon- oder Stromleitung gesehen, die zum Haus
führte. Auch keine Satellitenschüssel auf dem Dach.
Sie trat durch die Fliegengittertür wieder auf die Veranda und
brachte einen großen Holzeimer und ein paar raue Handtücher mit. Diese tauchte
sie ins Wasser, und dann rieb sie ihn damit ab, als wäre er ein scharf
gerittenes und verschwitztes Pferd.
Das Wasser war so kalt, als käme es aus einem Gletschersee. Sie tat
das ohne Scheu, so tatkräftig und gründlich wie eine Krankenschwester. Mit
grimmigem Gesicht musterte sie die Wunde in seinem Rücken, die sie schließlich
ganz sanft mit der
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