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Niceville

Niceville

Titel: Niceville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Stroud
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nur.
»Danke.«
    »Gern geschehen«, antwortete sie mit einem halben Lächeln, bei dem
sich die Falten in ihrem Gesicht vertieften. Er sah die kleinen, aber
unregelmäßigen Zähne. »Ich hab auch die Kugel rausgeholt und Sie mit Jod und
Sulfonamid eingepinselt. Wenn sich die Wunde nicht entzündet, werden Sie’s wohl
überleben. Ich hab Ihnen ein paar Sachen meines Mannes zurechtgelegt. Im
Badezimmer sind sein Rasierapparat und etwas Rasierseife. Sie sollten lieber
noch nicht duschen, aber ich habe Sie gestern Abend ohnehin gründlich mit einem
Schwamm gewaschen. Ihre Sachen habe ich in einer Wanne hinter dem Haus
eingeweicht. Das Blut wird wohl nicht rausgehen – na ja, wir werden sehen.
Haben Sie Hunger?«
    Merle teilte ihr mit, er sei ausgehungert, und wenig später hatte er
sich rasiert und eine altmodische Jeans, schwere Schnürstiefel mit bis auf die
Nägel abgelaufenen Sohlen sowie ein weißes, kragenloses und stark nach
Mottenkugeln riechendes Hemd angezogen, und sie saßen sich in der kargen Küche
gegenüber und löffelten einen grobkörnigen Haferbrei, den die Frau in Schüsseln
gefüllt und ohne viele Umstände auf den Tisch gestellt hatte.
    Sie holte noch eine Schüssel voller Zuckerrohrsirup und füllte zwei
Gläser mit einer kühlen, bernsteinfarbenen Flüssigkeit, die sich als Cider
erwies. Auf dem Ofen stand eine Blechkanne voller Kaffee. Sie mochte es
offenbar schlicht. Eine Packung Toastbrot oder Cornflakes waren nirgends zu
sehen.
    Sie saß aufgerichtet da und sah zu, während er die ersten Löffelvoll
aß. Ihre blassgrünen Augen leuchteten hell in ihrem gebräunten, vom schwarzen
Haar eingerahmten Gesicht. Sie trug keinerlei Make-up und sah aus wie jemand,
der ein arbeitsreiches Leben unter freiem Himmel führte, aber im warmen
Morgenlicht war sie auf eine einfache, ländliche Art sehr schön. Ihr Gesicht
war nachdenklich und reserviert, als habe sie noch nicht entschieden, was sie
mit ihm machen sollte.
    Aus irgendeinem anderen Raum im Erdgeschoss hörte er den blechernen
Klang von Musik, gefolgt von einer Männerstimme, dem Tonfall nach zu urteilen
irgendeine Werbung.
    Sie
hat ein Radio , dachte Merle. Dann weiß sie auch, was in
Gracie passiert ist und wer ich bin.
    Wenn es so war, dann verlor sie kein Wort darüber. Vielleicht waren
die Bullen schon unterwegs. Er konnte nichts daran ändern. Überhaupt schien sie
nicht das Bedürfnis zu haben, etwas zu sagen, ganz im Gegensatz zu Merle.
    »Ich möchte Ihnen danken für das, was Sie für mich getan haben. Mein
Name ist Merle Zane. Tut mir leid, Miss, aber ich weiß noch gar nicht, wie Sie
heißen.«
    Es trat eine Pause ein, in der die Frau von einem sehr weit
entfernten Ort ins Hier und Jetzt zurückzukehren schien.
    »Ich heiße Glynis. Glynis Ruelle«, sagte sie leise und in einem
leichten Küstensingsang. Sie sprach den Namen »Ru-ell« aus und verlieh ihm
damit einen Anklang, der an New Orleans erinnerte. »Ich bin eine geborene
Mercer, aber seit zwanzig Jahren eine Ruelle. Und was Sie hier sehen, ist das
Anwesen der Ruelles. Wir züchten Clydesdales und bauen Weizen, Raps und
Kartoffeln an. Das Land gehörte schon vor dem Bürgerkrieg der Familie Ruelle.«
    »Ich hab Leute auf den Feldern gesehen.«
    Für einen Augenblick zeichnete sich ein unbestimmbares Gefühl auf
ihrem Gesicht ab. Sie hob den Kopf – sie hatte ein großartiges Profil – und
blickte über die Felder.
    »Sind nicht mehr viele da. Sie sterben oder verschwinden einfach.
Ich versuche ständig, neue Erntehelfer zu finden. Albert Lee fährt ab und zu
mit dem Blue Bird in die Stadt und bringt ein paar Männer mit, hauptsächlich
Wanderarbeiter. Aber vielleicht bin ich zu anspruchsvoll. Die Leute, die wir
haben, wohnen im Annex, einer Baracke unten am Little Cut Creek. Da scheint es
ihnen besser zu gefallen.«
    »Sie haben gesagt, Sie führen diese Farm allein.«
    Sie sah ihn von der Seite an.
    »In letzter Zeit, ja. Aber es scheint mir ganz gut zu gelingen.«
    Merle wurde bewusst, dass er ihr in den Kleidern gegenübersaß, die
sie als die ihres Mannes bezeichnet hatte.
    »Ist Ihr Mann … verreist?«
    Sie lächelte schief.
    »John ist in den Krieg gezogen und gefallen.«
    »Das tut mir leid.«
    »Mir auch«, sagte sie mit wütend blitzenden Augen. »Es war von
Anfang an ein verdammt dummer Krieg. Der Präsident hätte sich nie hineinziehen
lassen dürfen. Ich wollte nicht, dass John geht, aber er war bei der Reserve
und wurde zur Infanterie einberufen. Ein

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