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Niceville

Niceville

Titel: Niceville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Stroud
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erblinden ließ, und einen
zweiten Schuss in den Oberschenkel, und London Teague wurde an der linken Hüfte
getroffen – im Winter darauf verkümmerte sein Bein, und er konnte nie wieder
gehen. Nach den Irischen Regeln war der Ehre durch so schwere Wunden eigentlich
vollständig Genüge getan, und die Sekundanten hätten die Angelegenheit für
beendet erklären sollen.«
    Sie seufzte, strich sich mit der Hand durch das rabenschwarze Haar,
lehnte sich zurück und betrachtete ihn über den Rand des Ciderglases hinweg mit
einem langen abschätzenden Blick aus kühlen, meergrünen Augen.
    »Ich könnte immer weiter erzählen. Entschuldigen Sie – wenn es um
die Teagues geht, kann ich eine furchtbare Langweilerin sein. Wie schon gesagt
und wie diese Geschichte zeigt: Zwischen unseren Familien besteht eine lange
bittere Feindschaft. Sie ist von Generation zu Generation weitergegeben worden
und existiert auch heute noch, so viele Jahre später. Die moderne Welt dreht
sich wie ein Kreisel, aber wir Ruelles stehen unverrückbar. Wir sind ein
Fixpunkt, verankert in der Vergangenheit. Aber genug davon. Was ich sagen will,
Mr Zane: Sie haben sich behauptet.«
    Merle empfand ihr Kompliment wie eine Ohrfeige, denn er fühlte sich
dessen nicht würdig. Mit einem Mal verspürte er das Bedürfnis, sich dieser Frau
zu offenbaren.
    »Sie haben ein Radio, Glynis. Sie müssen gehört haben, was gestern
in Gracie passiert ist. Ein Telefon haben Sie wahrscheinlich auch.«
    »Ja, ich habe eins. Aber ich benutze es nicht oft. Die Klingel ist
abgeklemmt. Wenn ich jemanden anrufen will, tue ich das, aber mir gefällt es
nicht, dass jederzeit jemand in meinem Haus eine Klingel läuten lassen kann und
dann erwartet, dass ich gerannt komme, um den Hörer abzunehmen. Und ich höre
zwar die Nachrichten im Radio, aber da geht es immer nur um den Krieg und
eingestürzte Häuser und Wirbelstürme im Golf und um die Wirtschaft, die den
Bach runtergeht, und darum, was irgendein Hollywood-Flittchen im Urlaub macht.
Aber Sie haben etwas von einem Mann auf der Flucht, Merle. Haben Sie für Geld
jemanden getötet?«
    Er wollte ihr eine komplizierte Antwort geben, aber irgendetwas an
ihr bewirkte, dass ihm dies schuftig und gemein vorkam, und so sagte er
einfach: »Ja.«
    »Ich verstehe. Wen haben Sie getötet?«
    »Polizisten.«
    Ihr Gesicht verhärtete sich.
    »Bundespolizisten?«
    »Nein. Von der State Police.«
    »Wegen des Geldes?«
    »Ja.«
    »Sie haben eine Bank ausgeraubt?«
    »Ja.«
    »Die in Sallytown?«
    »Nein, die First Third in Gracie.«
    »Die kenne ich nicht. Ist es eine nationale Bank?«
    »Ja, ich glaube schon.«
    »Dann ist es ein Fall für die Bundespolizei. Wo ist das Geld jetzt?«
    »Das hat der Mann, der auf mich geschossen hat.«
    »Ist die Bundespolizei Ihnen auf den Fersen?«
    »Ja. Wahrscheinlich gibt’s auch eine Belohnung. Sie bräuchten nur
anzurufen.«
    Dieser Vorschlag schien sie zu verwirren.
    »Wen? Die Bundespolizei? Die von der Bundesregierung in Washington
haben mit ihrem idiotischen Krieg meinen Mann umgebracht. Alles, was mit
Bundessachen zu tun hat, kann von mir aus zur Hölle fahren. Und mit Banken habe
ich ohnehin kein Mitleid. Wollen Sie versuchen, sich das Geld von dem Mann, der
Sie angeschossen hat, zurückzuholen?«
    Merle sah auf seine Hände und lehnte sich zurück. Er spürte den
Schmerz in seiner Wunde und setzte sich vorsichtig zurecht.
    »Ja«, sagte er und fasste den Beschluss erst in diesem Augenblick.
»Ja, das will ich. Aber nicht jetzt. Die haben sowieso gerade keine
Möglichkeit, das Geld auszugeben. Der Plan war, es ein paar Jahre lang zu
verstecken. Ich weiß, wer sie sind. Ich habe Zeit.«
    »Gut. Ich mag Männer, die geduldig sind. In der Zwischenzeit
brauchen Sie einen Ort, wo Sie sicher sind. Hier gibt’s eine Menge zu tun. Wenn
ich Ihnen helfe, helfen Sie mir dann auch?«
    Er musterte ihr fein geschnittenes, energisches Gesicht, die Falten
rings um die Augen, die Entschlossenheit ihres sehr schönen Mundes. Sie
erwiderte seinen Blick unverwandt und wartete mit einer Reglosigkeit, die er
bewundernswert fand.
    Sie hatte das, was seine Mutter »chinesische Stille« genannt hatte.
    »Ja«, sagte er, »das werde ich.«
    Diese Antwort schien eine Art Pakt zu besiegeln.
    Sie lächelte, und ein paar Sekunden lang spürte er einen kalten
Schauer, der vom Boden durch seine Beine aufzusteigen schien, und als dieser
vorüber war, strich sie ihm mit ihren warmen, trockenen Fingerspitzen über die
Hand

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