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Niceville

Niceville

Titel: Niceville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Stroud
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sauber. Er musterte den
Boden aus grob behauenen Brettern, die unregelmäßig verputzten Wände und die
alten Dachbalken.
    Am Ende des schmalen Raums war ein hohes Fenster mit dickem,
gewelltem Glas, eingerahmt von durchsichtigen Gardinen, die sich in der Brise
bauschten. Es stand offen, und eine pelzige Hummel summte dort herum. Er hörte
den an- und abschwellenden Gesang der Zikaden in den Bäumen, das klagende
Gurren von Trauertauben und, näher und halb übertönt vom Brummen des Generators,
das Klirren eines Pferdegeschirrs und das Schnauben und Stampfen eines Pferdes.
Nach der tiefen Tonlage und der Lautstärke des Wieherns zu schließen, war es
ein verdammt großes Pferd.
    Er stand auf, ging auf unsicheren Beinen zum Fenster und blickte über
ein frühlingshaft zartgrünes Meer aus Baumwipfeln, in dem hier und da Fichten
wie dunkelgrüne Speerspitzen aufragten. Der Wald erstreckte sich in sanften
Wellen bis zu den blaubraunen Hügeln am südlichen Horizont.
    Im Vordergrund lag ein großes, gerodetes und etwa eineinhalb
Kilometer langes Stück Land, das an drei Seiten von Wald begrenzt war. Die
Felder darauf sahen aus wie ein Flickenteppich. Manche waren hellgrün von den
Sprossen des Sommerweizens, manche waren dunkler und trugen, wie Merle aus den
weißen Blüten schloss, Kartoffeln, und am hinteren Ende leuchtete sattgelb der
Raps.
    In der Ferne konnte er Gestalten sehen, die Spitzhacken und
Schaufeln schwangen. Soweit er es ohne Fernglas erkennen konnte, hoben sie
einen Entwässerungsgraben aus oder legten das Fundament für einen Schuppen oder
so.
    Dahinter drängten sich andere Gestalten um die Silhouette eines
Traktors, der einen mit runden Steinen schwer beladenen Wagen zog.
    Farmarbeit ,
dachte er. Nichts
für mich .
    Der Himmel war klar und blau, ohne irgendein Wölkchen oder auch nur
einen Kondensstreifen. Die Luft roch nach Heu, Weizen, Süßgras, knospenden
Blumen und frisch umgebrochener Erde.
    Er sah auf den Hof hinunter. Die Frau stand neben einem großen,
massigen Arbeitspferd, einem Belgier oder Clydesdale. Merle interessierte sich
in erster Linie für Autos, kannte aber Feldfrüchte und Arbeitspferde von den
riesigen Farmen, die zu Angola gehörten. Das Pferd hatte ein schimmerndes Fell
in der Farbe von altem Rosenholz, lange weiße Fesselbehänge, eine weiße Blesse
und eine blonde Mähne, die über seinen muskulösen Hals hing.
    Merle schätzte, dass das Tier über eine Tonne wog. In Angola hatten
sie mit Clydesdales gearbeitet, und obwohl keines der Pferde dort auch nur
annähernd so schön wie dieses gewesen war, hatte jedes einen Wert von über
hunderttausend Dollar gehabt.
    Der Eindruck von vornehmer Verarmtheit, den Merle im Dunkel des
Abends gewonnen hatte, verflüchtigte sich im Handumdrehen. Die Farm war
primitiv und verfügte, abgesehen von dem Generator und dem Traktor, offenbar
über keine modernen Maschinen, doch er nahm an, dass sie zwischen zwei und drei
Millionen wert war.
    Die Frau schäumte das Pferd mit einem Schwamm ein, den sie in einen
Holzeimer zu ihren Füßen tauchte. Sie trug dieselbe Jeans wie am Abend zuvor,
eine Männerhose, zu weit für ihre schmale Taille, dazu ein verwaschenes
kariertes Hemd, das ihr ebenfalls viel zu groß war. Sie war barfuß, und ihre
kräftigen, von der Sonne gebräunten Füße waren mit schlammigem Wasser
bespritzt. Das offene Haar fiel schwarz schimmernd über ihre Schultern, und die
Muskeln ihres starken linken Armes spannten und entspannten sich, als sie den
Rumpf des Pferdes mit dem Schwamm abrieb.
    Wie in einer Art Trance sah er ihr eine Weile zu, und als er sich
schließlich abwenden und nach seinen Kleidern suchen wollte, blickte sie zu ihm
hoch. Sie richtete sich auf, ließ den Schwamm in den Eimer fallen und
beschattete mit der Hand die Augen.
    »Sie sind aufgestanden.«
    »Ja«, sagte er und lächelte. »Das ist ein tolles Pferd. Ein Clyde,
oder?«
    Die Frau tätschelte den Hals des Pferdes und lächelte, erfreut über
das Kompliment.
    »Allerdings. Er heißt Jupiter. Verstehen Sie etwas von Pferden?«
    »Ich habe mit Clydes gearbeitet«, sagte Merle und erwähnte nicht,
dass ihm diese Erfahrung in einem Hochsicherheitsgefängnis namens Angola
zuteilgeworden war.
    »Mir gefallen Männer, die sich mit Pferden auskennen. Wir dachten
schon, wir hätten Sie verloren. Wie fühlen Sie sich?«
    Was er dachte, aber nicht aussprach, war, dass er froh war, weder
tot noch im Gefängnis zu sein. »Sie haben mich zusammengeflickt«, sagte er

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