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Niceville

Niceville

Titel: Niceville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Stroud
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stob der Schwarm krächzend,
kreischend auf, bildete eine über den Eichen an der Gwinnett kreisende Wolke
und stieg auf in den hohen blauen Himmel wie Ascheflocken über einem brennenden
Haus. Als Merle den Blick senkte, sah er Charlie Danziger. Sein erster Impuls
war, den Mann einzuholen, ihm auf die Schulter zu tippen und ihm, wenn er sich
umdrehte, lächelnd zwei Kugeln in die Stirn zu verpassen.
    Er nahm die Tasche von der Schulter und zog sich in den Schatten der
Markise über einem Kinoeingang zurück, wo er sich hinter einer Schlange von
jungen Leuten verbarg, die auf Einlass warteten – es lief irgendein Film über
Vampirspione auf Rollerblades. Merle blieb einen Augenblick stehen und sah
Danziger nach, der sich für einen, der gestern eine von Merles 9-mm-Kugeln
abgekriegt hatte, ziemlich gut bewegte. Bis jetzt hatte Merle nicht gewusst,
wie schwer er Danziger verwundet hatte. Nicht besonders schwer, dachte er mit
Bedauern.
    Danziger schob sich durch das Gewimmel auf dem Bürgersteig – ein
großer, hart wirkender Cowboy in Jeans und Wildlederjacke. Er trug seine blauen
Stiefel und ging schnell, obgleich er offensichtlich die rechte Seite schonte.
Er hatte die Hände in die Jackentaschen gesteckt, und seine Aufmerksamkeit war
auf irgendetwas vor ihm gerichtet. Merle hatte keine Ahnung, was das sein
mochte, aber ein Blick auf Danzigers Gesicht verriet selbst aus dieser
Entfernung, dass seine Gedanken keineswegs freundlich und liebevoll waren. Er
sah bleich, zielstrebig und konzentriert aus, wie ein Mann, der im Begriff war,
etwas Gefährliches zu tun.
    Merle kam der Gedanke, sein Handy aus der Tasche zu ziehen und
Danziger anzurufen, nur um ihm einen Schrecken einzujagen, doch dann fiel ihm
ein, dass er es verloren hatte, als er gestern durch den Wald gestolpert war.
    Und er erinnerte sich auch an das, was er am Morgen zu Glynis gesagt
hatte: Im
Augenblick haben die sowieso keine Möglichkeit, es auszugeben. Der Plan war, es
ein paar Jahre lang zu verstecken. Ich weiß, wer sie sind. Ich habe Zeit .
    Verdammt, er wusste ja nicht mal genau, wie viel sie aus dieser Bank
herausgeholt hatten. Danziger hatte gesagt, wenn alles gut gehe, seien an
diesem Tag mehr als eineinhalb Millionen zu holen.
    Nein, dachte er und entspannte sich, als Danziger im Dunst
verschwand und nur noch sein weißes Haar über den Köpfen der Passanten zu sehen
war. Was er zu Glynis gesagt hatte, war noch immer richtig. Er würde die
anderen erwischen, in einem halben Jahr, wenn er bereit war und sie nicht damit
rechneten.
    Er wartete, bis Danziger ganz außer Sicht war, trat wieder ins
Sonnenlicht und ging in Richtung Lady Grace Hospital. Er schob sich zwischen
den Passanten hindurch, während die Sonne den Zenit überschritt und die
blaugrauen Schatten unmerklich länger wurden.
    Die Halle des Krankenhauses war ein hohes Gewölbe mit goldfarbenen
Pfeilern und Bogen und einer fünfzehn Meter hohen hellblauen, mit goldenen
Sternen geschmückten Kuppel. Durch hohe Fenster zur Rechten fiel gelbes Licht
auf ein Sammelsurium von Sofas und Sesseln, auf denen zusammengesunken und
reglos Leute saßen, die den Eindruck machten, als warteten sie auf einen Bus,
der nie kommen würde.
    Einer dieser Menschen war, wie Merle im Vorbeigehen bewusst wurde,
der alte Mann mit dem zerklüfteten Gesicht, der auf der Herfahrt neben ihm
gesessen hatte.
    Er saß im Sonnenlicht, das sein kariertes Hemd ausgebleicht
erscheinen ließ, und wandte langsam den Kopf, um Merles Weg zu verfolgen. Seine
blassblauen Augen blickten starr, die schmalen bläulichen Lippen bewegten sich
stumm, und er war noch immer in dieselbe stumpfe Verzweiflung gehüllt wie in
einen Nebel.
    Am Ende der schwarzweiß gefliesten Halle stand zwischen zwei dunklen
Korridoren eine breite Empfangstheke aus Walnussholz. Der Stuhl dahinter war
leer, doch an der verputzten Wand hing eine schwarze, gerippte Tafel, auf der
weiße Steckbuchstaben Auskunft über die diversen Abteilungen und Stationen des
Lady Grace Hospitals gaben.
    Darüber stand in einer Nische eine Statue der Jungfrau Maria. Ihr
Gewand war in demselben Blau gehalten wie die Kuppel, sie hatte segnend die Arme
erhoben und lächelte süßlich und leer. Ihre eigenartig chinesisch wirkenden
Augen sahen Merle direkt an.
    Krankenschwestern in hellblauen Uniformen und Gesundheitsschuhen,
Gebäudereiniger in roten Overalls und Ärzte in grünen oder weißen Kitteln
liefen durch die Halle oder standen am Starbucks-Stand herum.
    Andere

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