Niceville
vorbei. Er hatte eine Gänsehaut, und sein Atem war flach und
keuchend.
Am Aufzug angekommen, drückte er den »Abwärts«-Knopf, und im selben
Augenblick öffnete sich die Tür. In der Aufzugkabine stand ein Mann, ein
hochgewachsener Mann mit dunkler Haut und langem, glänzend schwarzem Haar. Er
trug eine graue Hose mit Bügelfalte und ein weißes Hemd.
Er hatte blassgrüne Augen und eine aggressive Ausstrahlung, die sich
verstärkte, als er Merle sah.
»Wer sind Sie?«, fragte er misstrauisch.
»Wer ich bin? Wer sind Sie denn?«, blaffte Merle zurück. Seine
Nerven waren angespannt, er war äußerst reizbar.
Der Mann starrte ihn einen langen Augenblick an, als wollte er sich
Merles Gesicht einprägen, dann schob er sich an ihm vorbei, drehte sich um und
sah zu, wie Merle in die Aufzugkabine trat. Mit der linken Hand hielt er die
Tür auf, die rechte steckte in der Tasche.
»Mein Name ist Lemon Featherlight«, sagte der Mann. Er zitterte aus
irgendeinem Grund und versuchte, es zu unterdrücken. »Was machen Sie hier? Wer
sind Sie? Warum sind Sie hergekommen? Was wollen Sie?«
»Ich heiße Merle Zane«, sagte Merle, »und habe einen Freund
besucht.« Er drückte den Knopf für das Erdgeschoss.
Die Türen wollten sich schließen, doch Featherlight blockierte sie
mit der Hand.
»Wer hat Sie geschickt?«
»Glynis Ruelle hat mich geschickt, Mr Featherlight«, sagte Merle,
einer Eingebung folgend und nur um den Typen zu ärgern. »Schönen Tag noch.«
Er drückte den »Tür schließen«-Knopf und grinste noch immer über
seinen Witz, als die Türen aufeinander zuglitten. Der Mann starrte ihn mit
geweiteten Augen an. Später, auf dem Rückweg zum Bushof, wo er auf den Blue
Bird Bus warten wollte, kam es Merle so vor, als hätte er den Mann um ein Haar
zu Tode erschreckt, was ihm eigentlich ganz recht war. Es wurde Zeit, die Dinge
in Niceville ins Rollen zu bringen – bisher war Niceville nicht gerade nett zu
ihm gewesen.
Nick und Beau öffnen eine Tür
»Was zum Teufel ist das hier? Ein Heimkino oder so?«
Nick sagte für eine Weile nichts. Er stand neben Beau Norlett im
stockdunklen Keller von Delia Cottons Haus, am Fuß der wackligen Treppe, die
von der Küche hinunterführte.
Beide Männer starrten auf ein buntes, sich bewegendes Bild an der
gegenüberliegenden Wand, ein tanzendes Flackern in üppigem Grün und sattem
Gelb, strahlendem Blau und warmem Braun. Es war beinahe, als würde ein Film
über ein impressionistisches Gemälde dorthin projiziert: eine leuchtende Fläche
aus Farbe und Bewegung, die die ganze Wand bedeckte – zehn, vielleicht zwölf
Meter lang und zwei Meter hoch.
Sie starrten in verblüfftem Schweigen darauf. Ein kalter Schauer
lief ihnen über den Rücken, und sie spürten eine urtümliche Angst.
»Ich … ich weiß nicht«, sagte Nick, ging die letzte Stufe hinunter
und trat in den dunklen Raum. »Es sieht jedenfalls nicht so aus wie die
Heimkinos, die ich bisher gesehen habe.«
Als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er im
Widerschein der Farben einen riesigen alten Heizofen erkennen, der wie ein
gigantischer Oktopus am Ende des Kellers hockte. An der dem tanzenden Licht
gegenüberliegenden Wand waren Kisten aufgestapelt. Die Deckenbalken waren dick
und roh behauen, und der Boden war aus Beton, sehr sauber und ohne Staub. Der
Raum wirkte trocken und ebenso gut instand gehalten wie der ganze Rest des
Hauses.
Nick hörte, dass Beau, der hinter ihm stand, sich bewegte und vor
sich hin murmelte.
»Was machst du da?«, fragte Nick im Flüsterton, als wollte er das,
was dieses Lichtding erzeugte, nicht auf sich aufmerksam machen.
»Ich suche nach einem Lichtschalter«, flüsterte Beau zurück.
»Nein. Fass nichts an. Bleib, wo du bist.«
»Was hast du vor?«
»Ich weiß nicht«, sagte Nick. Er ging langsam weiter und starrte auf
das Flackern an der Kellerwand. Oben waren leuchtend grüne Streifen, auf denen
hier und da Tupfen und kleinere Flächen in anderen Farben auszumachen waren,
und darunter ein breiter Streifen in kühlem Himmelblau … Himmelblau?
»Beau, hat dein Handy eine Kamera?«
»Ja«, sagte Beau. »Soll ich ein Foto davon machen?«
»Ja. Ohne Blitz. Geht das?«
»Moment … Ja, okay.«
Nick hörte das metallische Klickgeräusch, mit dem man die
Kamerafunktion der Handys versehen hatte, um Umkleidekabinenspannern den Spaß
zu verderben. Eine ganze Serie.
Klick-klick-klick-klick.
»Ich kann auch eine Videoaufnahme machen, wenn du
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