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Niceville

Niceville

Titel: Niceville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Stroud
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doch der Alte hatte sich
nur zu ihm umgedreht und ihn langsam blinzelnd angesehen, als wollte er ihn
verschwinden lassen. Dann hatte er sich wieder den vorbeiziehenden Feldern und
Dörfern zugewandt, eingehüllt in eine Aura tiefer Traurigkeit.
    Ein Streifenwagen fuhr langsam vorbei, doch die beiden Polizisten
darin schienen sich weder für Merle noch für irgendetwas anderes zu
interessieren.
    Sogleich fühlte er sich besser. Wenn irgendeine Fahndung lief,
passte die Personenbeschreibung offenbar nicht auf ihn. Nachdem der
Streifenwagen um die Ecke gebogen war, verließ Merle den Bushof und machte sich
auf den Weg zum Rathaus, das mit seiner riesigen Kuppel unverkennbar war.
    Das rote Backsteingebäude musste die Bibliothek sein; sie befinde
sich gleich neben dem Rathaus, hatte Glynis gesagt. Das Lady Grace Hospital
lag, laut ihrer Beschreibung, einen Block weit hinter der Bibliothek an einer
Straße namens Forsythia Street.
    Den
Rest überlasse ich Ihnen , hatte Glynis gesagt.
    Er tastete nach der hinteren Tasche seiner Jeans, in der die
Brieftasche steckte, die Glynis ihm gegeben hatte. Darin befanden sich Bargeld
und ein Führerschein mit einem Schwarzweißfoto, das zu jedem weißen, bartlosen
Mann mittleren Alters hätte passen können und auf den Namen John Hardin Ruelle,
wohnhaft auf der Ruelle Plantation, 2950 Belfair Pike Road, Cullen County Side
Road 336, ausgestellt war.
    Er schulterte die Tasche, trat auf die Straße, mischte sich unter
die Passanten, die ihn nicht weiter beachteten, und ging in Richtung des
Krankenhauses. Eine Straßenbahn in Gold und Marineblau rumpelte vorbei,
schimmernd und glänzend wie ein Kinderspielzeug. Die Leute darin blickten mit
ausdruckslosen Gesichtern geradeaus.
    Sie sahen aus wie Leichen.
    Am Ende des Blocks, an der Kreuzung Forsythia und Gwinnett, sah er
in einem großen Schaufenster zahlreiche Fernseher. Vor dem Fenster standen
Menschen und starrten auf die Apparate, die allesamt dieselben Bilder zeigten.
    Merle blieb am Rand der Gruppe stehen. Er war groß genug, um über
die Köpfe hinwegsehen zu können. Offenbar wurde über irgendeinen Polizeieinsatz
berichtet: Streifenwagen und Uniformierte waren vor einer Kirche postiert, im
Hintergrund wartete ein Rettungswagen.
    Der Ton war abgestellt oder zu leise, um durch das Glas der
Schaufensterscheibe zu dringen.
    Eine blonde Reporterin sprach in die Kamera, und unterhalb des
Bildes verkündete eine Laufschrift: GEISELNAHME IN SAINT
INNOCENT ORTHODOX .
    Merle sah eine Weile zu, doch es schien sich nichts zu tun, und so
ging er weiter, die Gwinnett entlang. Die Sonne brach durch die Wolken. Über
der unregelmäßigen Dachlinie der Gebäude an der von Geschäften gesäumten Straße
sah er in der dunstigen Ferne, auf dem Gipfel einer hoch aufragenden Wand aus
blassem Kalkstein, die sich über die Stadt zu neigen schien, eine große
Baumgruppe.
    Merle erinnerte sich dunkel, dass Coker etwas von Tallulah’s Wall
und einem tiefen, mit Wasser gefüllten Loch erzählt hatte, das sich angeblich
dort oben befand. Crater Sink. Merle hatte den Eindruck gewonnen, dass es sich
um einen unguten Ort handelte, wo etwas spukte, über das man nicht gern sprach.
    Wenn irgend so ein blödes Loch im Boden einem harten Burschen wie
Coker Angst machen konnte, war das nur ein weiterer guter Grund dafür, dieses
Nest so schnell wie möglich wieder zu verlassen.
    Die Sonne schien auf die Bäume dort oben, und er konnte einen
Schwarm schwarzer Pünktchen erkennen, die einen Baum, der die anderen
überragte, umkreisten: Es waren Krähen, ziemlich viele, und sie waren offenbar
aufgescheucht und versuchten, etwas zu vertreiben – einen Falken oder Adler.
Dann hörte er einen heiser krächzenden Schrei, der ganz aus der Nähe kam.
    Als er sich suchend umdrehte, entdeckte er eine Gruppe Krähen, die
auf der sonnenbeschienenen Seite der Gwinnett, kaum zehn Meter entfernt, auf
einer durchhängenden Stromleitung saßen.
    Sie sahen ihn direkt an. Ihre schwarzen Flügel flatterten, wenn sie
hin und her rückten und die Köpfe schief legten, um ihn zu beobachten. Die
scharfen Schnäbel glänzten im Sonnenlicht, das Gefieder schimmerte wie Glas,
wenn sie von einem Bein auf das andere traten. Sie krächzten, sie funkelten ihn
an, als wären sie empört über seinen Anblick, als wäre seine Anwesenheit eine
persönliche Beleidigung.
    Für einen Moment empfand Merle eine eigenartige Unwirklichkeit und
dahinter ein Beben irrationaler Angst. Im selben Augenblick

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