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Niceville

Niceville

Titel: Niceville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Stroud
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warteten bei den Aufzügen in den Schatten hinter der
Empfangstheke und sahen stirnrunzelnd auf ihre Klemmbretter. Die Halle wirkte
wie das Innere einer Kirche, nur dass es hier nicht nach Weihrauch, sondern
nach Kaffee, Desinfektionsmittel und Wintergrün roch.
    Niemand achtete auf Merle, als er die Tafel studierte und dann zu
Aufzug A ging, wo er schweigend und in Gesellschaft einer Gruppe hübscher
junger Mädchen wartete, die nach Haarspray und Kaugummi rochen und sich
unterhielten.
    Plötzlich spürte er hinter sich etwas, und als er sich umdrehte, sah
er den alten Mann aus dem Bus, der auf die Anzeige des Aufzugs starrte.
    Merle sah ihn an. Der Alte erwiderte seinen Blick, blinzelte einmal
und sprach dann zum ersten Mal.
    »Er ist im dritten Stock«, sagte er leise, mit einem heiseren
Flüstern, als wollte er nicht, dass die Mädchen es hörten.
    »Wer?«, fragte Merle und neigte sich zu ihm.
    »Wirst du schon sehen«, sagte der Mann. »Du wirst ihn wecken müssen.
Er schläft. Clara wird dir den Weg zeigen.«
    Ein leiser, melodischer Gong ertönte, die Türen des Aufzugs – ein
verziertes Bronzegitter über dickem getöntem Glas – öffneten sich zischend, und
ein Pulk von Krankenhausangestellten und Besuchern strömte heraus. Der Mann
wurde zurückgedrängt, hielt den Blick aber weiter auf Merle gerichtet.
    Durchgeknallt ,
dachte Merle. Allerdings war das dritte Stockwerk tatsächlich dasjenige, in dem
er, laut Glynis, mit der Suche beginnen sollte.
    Er fuhr mit den schwatzenden Mädchen hinauf, stieg in der dritten
Etage aus und trat in einen langen, schmalen, halbdunklen Korridor, der nur von
bernsteingelben, in Abständen von einigen Metern montierten Wandlampen
erleuchtet war.
    Am Ende des Korridors war ein in kühles weißes Licht getauchter
Bereich, wo eine Krankenschwester an einem Tisch saß, sich über einen Computer
beugte und konzentriert auf einen Bildschirm starrte.
    Merle ging, so leise seine Stiefel es erlaubten, darauf zu. Er kam
an halb geöffneten nummerierten Türen vorbei und erhaschte kurze Blicke in
abgedunkelte Räume, wo zugedeckte Gestalten lagen, wo Apparate summten und
piepten und alle Vorhänge geschlossen waren, um das Sonnenlicht auszusperren.
    Als er sich der Schwesternstation näherte, hob die Frau den Kopf und
lächelte. Sie war jung und sehr hübsch, mit hellbraunem Haar und einer
hinreißenden Figur.
    Sie trug keine Uniform, sondern ein blassgrünes leichtes Kleid, das
ihre Kurven betonte und Merle an laue, verträumte Sommernächte in nie besuchten
exotischen Regionen denken ließ.
    In ihren großen, haselnussbraunen Augen schimmerte blasses Licht.
Sie trug ein Namensschild:
     
    Clara Mercer
    Stationsschwester
     
    »Tut mir leid, Sir, aber die Besuchszeiten sind von fünf
bis acht.«
    Merle blieb an der Theke stehen, schenkte Clara Mercer sein bestes
Lächeln, das, in Anbetracht seines düsteren, scharf geschnittenen Gesichts und
der Raubvogelnase, ziemlich gut ausfiel. »Das weiß ich, Miss Mercer, aber –«
    »Bitte nennen Sie mich Clara.«
    »Freut mich, Sie kennenzulernen, Clara. Ich heiße Merle. Tut mir
leid, dass ich Sie außerhalb der Besuchszeit störe, aber ich bin nur heute in
der Stadt – gerade mit dem Bus gekommen.«
    »Mit dem Blue Bird?«, fragte sie mit einem kurzen Blick auf seine
Farmarbeiterkleider. Die Frage überraschte Merle. Es war, als hätte sie ihn
erwartet.
    »Ja. Und ich weiß nicht, wie lange ich bleiben kann.«
    »Tja«, sagte sie und sah in den langen, halbdunklen Korridor hinter
ihm. »Ich glaube, ich weiß, warum Sie hier sind. Wir dürfen eigentlich nicht …
Aber im Augenblick ist ja niemand da. Die anderen sind alle in der
Teambesprechung, und ich soll nur die Anrufe entgegennehmen. Zu wem wollen Sie
denn? Zu Rainey vielleicht?«
    Merle sagte ja.
    Claras Gesicht wurde ernster, und das kühle Licht in ihren Augen
wurde noch kühler.
    »Ja. Es ist so weit, nicht? So eine traurige Geschichte. Sind Sie
ein Verwandter?«
    »Ja. Ein entfernter Verwandter. Aber ich würde ihn gern sehen, wenn
das geht.«
    »Er wird Sie nicht erkennen«, sagte sie in gedämpftem Ton. »Er ist
eigentlich gar nicht ansprechbar … Sie können nur ein paar Minuten bleiben. Und
es besteht auch Infektionsgefahr, darum müssen Sie einen Kittel überziehen.«
    Sie wies auf ein Regal in einer Nische, in dem zusammengefaltete
weiße Kittel lagen. Merle ging hin, suchte einen aus und zog ihn an, während
Clara etwas auf einem Formular ankreuzte. Als er wieder zur

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