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Niceville

Niceville

Titel: Niceville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Stroud
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Theke kam, sah sie
ihn an und lächelte mitfühlend.
    »Er liegt in vier achtzehn, das ist auf der Privatstation, den Gang
entlang und durch die Glastür. Sie dürfen die weiße Linie auf dem Boden nicht
übertreten. Ich würde mitkommen, aber ich muss beim Telefon bleiben.«
    »Ich pass schon auf«, sagte Merle und setzte sich bereits in
Bewegung. Sein Herz klopfte, und die Kehle wurde ihm eng. Er fand die Tür mit
der Nummer 418, blieb stehen und spähte durch das stark geriffelte Glas des
Fensters in der oberen Türhälfte, auf dem Intensiv – Privat stand. Er
konnte, verzerrt und verschwommen, ein spärlich beleuchtetes Zimmer erkennen,
etwas Großes, Weißes und darüber eine Reihe grüner Lichter.
    Er öffnete die Tür und trat in ein kleines, aber gut ausgestattetes
Krankenhauszimmer. Eine Gestalt lag, zusammengekrümmt wie ein Fötus, auf der
rechten Seite, ein kleiner Junge. Seine Wange ruhte auf dem Frotteebezug des
Kopfkissens.
    Er war mit einem hellblauen Laken zugedeckt, seine Augen waren halb
geöffnet, aus dem Mund rann ein Speichelfaden, und rings um das Bett waren
Infusionsständer und piepende Apparate aufgebaut, deren gewundene Schläuche und
Kabel unter der Bettdecke verschwanden.
    Es war kühl und still, nur die leisen Geräusche der Maschinen waren
zu hören. Ein leichter Geruch nach Urin lag in der Luft. Auf dem Boden war eine
weiße Linie mit der Aufschrift: BITTE NICHT ÜBERTRETEN .
    Merle blieb vor der Linie stehen und betrachtete den Jungen. Sein
Alter war schwer zu schätzen – zwölf, vielleicht dreizehn. Er war ausgezehrt,
seine Haut schimmerte bläulich, und er atmete selbständig, aber sehr flach. Bis
auf das rasche Heben und Senken des Brustkorbs unter der Decke wirkte er
vollkommen leblos.
    Merle, der kein sonderlich liebevoller Mensch war, empfand Mitleid
mit dem Jungen – aber er hatte hier etwas zu erledigen.
    »Rainey«, sagte er leise, aber deutlich. »Hörst du mich?«
    Nichts.
    »Rainey, Glynis will, dass du jetzt aufwachst.«
    Auf dem Vitaldatenmonitor nahm die Zahl der Herzschläge zu. Die
Augenlider des Jungen flatterten.
    Er sah besorgt auf den Monitor: Eine deutliche Veränderung würde
sicher bemerkt werden, vielleicht von einem Computer, der ganz woanders stand,
vielleicht aber auch von einer Schwester, die dann herbeieilen würde.
    Merle war ziemlich sicher, dass er die Aufmerksamkeit des Jungen
hatte – auch wenn er nicht wusste, ob man bei einem Kind, das im Koma lag, von
»Aufmerksamkeit« sprechen konnte.
    »Du hast lange genug geschlafen, Rainey. Jetzt musst du Glynis einen
Gefallen tun. Wirst du Glynis Ruelle einen Gefallen tun, Rainey?«
    Die Augenlider flatterten abermals, der Junge bewegte die Lippen,
und die kleine Hand zuckte. Der Monitor zeigte jetzt 36 Herzschläge pro Minute
an. Unter der Zahl blinkte ein roter Balken.
    »Wenn du aufwachst, sollst du die Ärzte und Schwestern nach einem
Mann namens Abel Teague fragen. Kannst du dir diesen Namen merken? Der Mann
heißt Abel Teague. Er lebt in Sallytown. Glynis Ruelle muss unbedingt mit ihm
sprechen. Du sollst den Ärzten sagen, dass Abel Teague sich möglichst bald mit
Glynis Ruelle in Verbindung setzen soll – das ist sehr wichtig. Wirst du das
tun?«
    Der Junge machte die Augen ganz auf und starrte ins Dunkel neben
seinem Bett. Er sah nichts und hörte nur eine leise, angenehme Stimme aus den
Schatten, die immer wieder »Glynis Ruelle« und »Abel Teague« sagte.
    Auf dem Monitor über dem Bett leuchtete der rote Balken unter der
Herzrate jetzt ohne Unterbrechung, und es erklang ein lautes Piepen.
    Merle sah den Jungen ins Dunkel starren. Er sah die Wangen und die
verkrampften Finger zucken und kam zu dem Schluss, dass er Glynis Ruelles
rätselhafte Botschaft übermittelt hatte und sie anscheinend, entgegen seinen
Erwartungen, auch angekommen war.
    Er drehte sich um, verließ das Zimmer und ging mit raschen Schritten
zurück zur Schwesternstation. Clara Mercer, die junge Frau mit den
haselnussbraunen Augen, war nicht mehr da.
    Die Station wirkte verlassen. Das ganze Stockwerk wirkte verlassen.
Die Stille lastete auf Merle, und er verspürte das starke Bedürfnis, wieder
hinaus ins Tageslicht zu kommen, bevor er herausfand, was für Leute in diesen
verdunkelten Räumen rechts und links des Korridors lagen. Er zog den Kittel
aus, hängte ihn an einen Haken und ging nach rechts durch den Hauptkorridor,
vorbei an den bernsteingelben Wandlampen. Leise und zielstrebig ging er an den
dunklen Zimmern

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