Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Niceville

Niceville

Titel: Niceville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Stroud
Vom Netzwerk:
willst.«
    »Ist gut. Fang an.«
    »Okay, aber geh bitte nicht zu nahe ran.«
    »Nein, nein. Ich will nur … Da ist irgendwas komisch.«
    »Das kannst du laut sagen.« Beau sah auf seinem LCD -Display,
wie Nick einige Schritte auf die wabernde Wand zuging und vom Widerschein
beleuchtet wurde. Er starrte sie wie gebannt an.
    Er versuchte, daraus schlau zu werden, und plötzlich geschah etwas
in seinem Kopf – eine Verschiebung der Perspektiven –, und das Rätsel war
gelöst.
    Er neigte sich weit zur Seite und betrachtete das Bild, das sich ihm
bot. Mit einem Mal erkannte er eine Baumreihe, verschwommen zwar, aber deutlich
genug, ein breites Band aus Eichen und Kastanien, durchsetzt mit dunkleren
Speerspitzen, die Fichten oder Zedern sein mochten, und unterhalb der Baumreihe
ein großes, gepflügtes Feld und Leute, die darauf arbeiteten. Einen braunen
Traktor, der einen flachen Schlitten zog, hoch beladen mit Gegenständen, bei
denen es sich, wie es schien, um kugelrunde weiße Steine handelte.
    Noch mehr Gestalten: Manche gruben in der Erde, andere hoben
längliche, schwarze Kisten heraus, während wieder andere in einer langen,
unregelmäßigen Linie dastanden und zusahen.
    Nick versuchte, das alles besser zu erkennen. Er strengte die Augen
an, trat einen Schritt vor.
    »Nick, bitte, fass es nicht an.«
    »Ich will nur mal …«
    Er hörte ein Geräusch, ein leises, fauchendes Knurren, das ihm einen
Schauder über den Rücken jagte. Im selben Augenblick zuckte das Flackern an der
Wand und veränderte sich: Anstelle einer Baumreihe und eines Feldes, auf dem
Arbeiter irgendwelche Gräben aushoben, sah man das auf dem Kopf stehende Bild
einer Reihe schiefergedeckter Dächer: Es waren große alte Häuser, mächtige Eichen,
behangen mit Spanischem Moos, gewellte Rasenflächen und, weiter im Vordergrund,
ein schmiedeeiserner Zaun, ein Tor, ein schwarz-roter Jeep mit einer Gestalt,
die daran lehnte …
    Nick wandte sich ab und ging durch den Kellerraum zu einem dunkleren
Fleck hoch in der gegenüberliegenden Wand. Dabei wurde der Schatten, den er auf
das Bild warf, immer größer, bis er es ganz auslöschte. Nick hob den Arm und
sah auf seiner Handfläche einen schimmernden Lichtfleck.
    Er bewegte die Hand auf die dunkle Stelle zu, bis der Fleck nur noch
so groß wie eine Münze war.
    Der Keller hinter ihm war jetzt vollkommen dunkel. Nick untersuchte
die Wand vor ihm und entdeckte einen winzigen Lichtpunkt.
    Er streckte tastend die Hand aus und spürte einen schweren Stoff mit
einem etwa zwei Zentimeter großen Loch oder Riss in der Mitte.
    Dann trat er zurück, schüttelte den Kopf und begann zu lachen.
    »Was ist?«, fragte Beau, als Nicks schwarzer Schatten zurückwich und
ein Teil des farbigen Feldes wieder auf der Kellerwand erschien. Nick reckte
sich hinauf und schob den Stoff zur Seite – das Bild an der Wand ertrank in
einer Flut von Sonnenlicht, das durch ein Kellerfenster in den Raum fiel.
    Dann zog er den Stoff wieder vor das Fenster, und das Bild auf der
gegenüberliegenden Wand war wieder da, wenn es auch, wie ihm klar wurde, nicht
das Bild war, das er anfangs gesehen hatte, jene eigenartig unwirkliche
Szenerie mit der Baumreihe, den Feldarbeitern, dem Traktor, der einen Schlitten
mit aufgestapelten runden hellen Gegenständen gezogen hatte, die möglicherweise
weiße Steine gewesen waren.
    Oder
Schädel , dachte er, sagte aber nichts. Er sah zu Beau hinüber.
    »Schon mal was von einer Camera obscura gehört, Beau?«
    »Ja, ich glaube schon. Ist das nicht so eine Art Lochkamera? Das
haben wir mal in der Schule durchgenommen, da haben wir so was aus einem
Schuhkarton gebastelt.«
    »Genau. Und dieser Raum ist jetzt so eine Camera obscura.«
    Er drehte sich um und zeigte auf die farbige Wand.
    »Wahrscheinlich ist das Licht im Augenblick gerade richtig dafür. In
dem schwarzen Stoff hier ist ein kleines Loch, durch das Licht fällt, genau wie
bei einer Lochkamera. Was du da siehst, ist ein auf dem Kopf stehendes Bild der
Straße vor dem Haus. Da ist der Jeep von Armed Response, da ist Dale Jonquil,
da sind das Tor, der Zaun, die Häuser und Gärten gegenüber.«
    Beau starrte stirnrunzelnd auf das Bild, und mit einem Mal fiel es
ihm wie Schuppen von den Augen – es war, als durchschaute er eine optische
Täuschung. Er ging zu der Wand, legte die Hand darauf und spürte die kalten
Backsteine.
    »Verdammt, Nick, das Ding hat mir einen Heidenschreck eingejagt …«
    »Mir auch. Zum ersten Mal hab ich so

Weitere Kostenlose Bücher