Nicholas Dane (German Edition)
ordentlich anzugeben. So verwandelten sich alle großen Brüder in begnadete Fußballspieler, die jede Menge Kumpels hatten und ihren kleinen Brüdern sogar bei den Hausaufgaben halfen.
Und Joe blies ins gleiche Horn. Da er nichts über Nick wusste, erfand er lauter tolle Sachen, die Nick angeblich mit ihm gemacht hatte. Sie hatten zusammen Fußball gespielt. Nick hatte ihm Witze erzählt und ihm angeboten, andere für ihn zu verprügeln. Der Kracher war natürlich, dass Nicks Mutter gerade gestorben war. Mann! Das war einfach obercool. So stand Joe für eine Weile im Zentrum des Interesses. Vielleicht war Nick ja gar nicht so übel.
Dann, und das war das Sahnehäubchen, dachte sich einer seiner Freunde einen kleinen Reim aus: »Nicholas – der macht dich nass!« Den ganzen Nachmittag über riefen sie das und aus irgendeinem Grund wurde es immer witziger, bis es schließlich umwerfend komisch war. Joe brauchte nur daran zu denken, schon musste er lachen.
Als Jenny und Joe nach Hause kamen, hatte der Kleine die Hände in den Hosentaschen stecken und pfiff vor sich hin.
»Wo ist denn der Nick?«, fragte er und kicherte.
»Kommt später«, sagte Jenny. »Was hast du denn? Was ist denn so komisch?«
»Ach, nichts weiter«, erwiderte Joe locker, kicherte wieder und hockte sich vor den Fernseher. Jenny musterte ihren Sohn. Sie hatte gezögert, ihm zu sagen, dass Nick ab sofort bei ihnen wohnen würde. Aber jetzt, dachte sie, könnte sie es wagen. Wenn sie erst mal Joe auf ihrer Seite hatte, dann …
»Würdest du gerne einen großen Bruder haben?«
»Ja, klar!«, rief Joe begeistert und hielt sich den Bauch vor Lachen.
Er hatte so gute Laune, dass Jenny gleich die Gelegenheit beim Schopf ergriff. Sobald Joe und Grace vor dem Fernseher saßen und ein Brot aßen, erklärte sie ihnen, was Sache war.
»Warum muss er denn bei uns wohnen, Mummy?«, wollte Grace wissen.
»Er hat sonst niemanden. Er ist der Sohn meiner besten Freundin. Wenn mir mal so was passiert, dann hoffe ich, dass euch auch jemand aufnimmt.«
Das brachte Grace ins Grübeln.
»Heißt das, dass du seine Mutter sein wirst?«
Jenny überlegte und meinte: »Ja, irgendwie schon.«
Grace nickte.
»Prima. Und was ist mit dir, Joe?«
»Klaro.« Joe nickte auch und konzentrierte sich auf sein Brot. Er aß es auf und kicherte dabei immer wieder vor sich hin. Dann sahen beide Kinder noch eine Weile fern, bis Jenny sie nach oben schickte. Sie sollten sich umziehen, spielen, und Grace sollte ihre Hausaufgaben machen.
Jenny schaute ins Tiefkühlfach. Darin lagen gefrorene Pasteten, Fischstäbchen, Erbsen und Fritten, Sachen, die sie jeden Abend aßen, und sie überlegte, was Mrs Batts wohl für eine angemessene Abendmahlzeit halten würde. Wahrscheinlich Fleisch und dazu ein oder zwei Gemüsesorten und viel Salat, aber sie wusste genau, dass Joe und Grace aufheulen würden, wenn sie ihnen plötzlich gesundes Essen vorsetzte. Gemüse aßen sie aus freien Stücken nur in Verbindung mit einem Braten, wenn es in dicker Soße schwamm.
Ein Braten! Das war’s. Okay, es war Mittwoch, nicht gerade der richtige Tag dafür, aber ein Braten war eine ordentliche, nahrhafte Mahlzeit. Mit Gemüse.
Jenny guckte in die Schränke. Sie hatte kein Gemüse im Haus, und es war schon fünf Uhr. Für den Braten blieben ihr genau anderthalb Stunden, mit Einkaufen. Das war zu schaffen – wenn sie sich wie irre beeilte.
Jenny riss ein gefrorenes Huhn aus der Verpackung, steckte es bei niedriger Temperatur in den Ofen und flitzte aus dem Haus zum Spar -Laden an der Ecke, wo sie einen Kohlkopf kaufen wollte. Beim Rennen stieß sie ein kurzes Gebet aus. Die ganze Sache hing von einer Zutat ab, die sie nicht selbst besorgen konnte: Nick. Sie hatte in seiner Schule und bei ihm zu Hause angerufen, ihn aber nicht erwischt. Bitte, lieber Gott, mach, dass er rechtzeitig kommt.
Sie war so mit ihren Gedanken über einen guten Eindruck beschäftigt, dass sie eines vollkommen vergaß: Sie hatte Nick immer noch nicht gesagt, woran seine Mutter gestorben war.
Während Jenny wie ein Tornado die Straße entlangfegte, saß Joe auf dem Fußboden seines Zimmers, spielte mit seinen Transformers und wartete auf Nick. Er hatte den ersten Schrecken überwunden und freute sich jetzt auf Nick. Denn der war ja gar kein Mann, sondern nur ein Junge wie er, bloß größer. Sie konnten was zusammen machen. Vor allem hätte er dann einen Verbündeten gegen seine blöde große Schwester. Das war einfach
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