Nicholas Dane (German Edition)
zu schöpfen. Nick bekam ein paar von Simons Sachen – Jeans und T-Shirt, zum ersten Mal seit Monaten hatte er wieder Jeans an –, stieg aus dem Fenster und schlich durch die Gärten bis zur Straße.
Jeden Tag ging er bei Davey vorbei, aber entweder verpasste er ihn knapp oder Davey versteckte sich irgendwo oder es war sonst irgendwas. Die O’Brians sagten Nick nicht, was los war, und reagierten bald gereizt auf seine ständige Schnüffelei. Langsam fing er an, sich Sorgen zu machen. Er hatte sich darauf verlassen, dass Davey ihn seinem Kumpel Sonnschein vorstellte, der ihnen helfen würde. Wenn Davey geschnappt worden war, sah Nick alt aus.
Schließlich ertrug er Langeweile und Verzweiflung nicht mehr und ging zu Jenny.
Er musste nach Middleton laufen, denn den Zehner von Mrs Simon hatte er längst ausgegeben. Gegen vier traf er dort ein. Jenny war noch nicht zu Hause, aber Grace und Joe saßen vor dem Fernseher und aßen Cornflakes. Ihr Haus hatte keinen Vorgarten, und Jenny mochte keine Gardinen, so dass Nick von außen hineingucken konnte. Er lief so lange in der Gegend herum, bis er Jennys Auto vor der Tür stehen sah. Ihm war ein bisschen unbehaglich, vor allem, wenn er daran dachte, was beim letzten Mal passiert war. Er musste noch zwei-, dreimal am Haus vorbeigehen, bis er den nötigen Mut fasste und zu klopfen wagte.
Als Jenny sah, wer dort vor der Tür stand, schob sie den Kopf hinaus, guckte die Straße rauf und runter, streckte den Arm nach Nick aus, packte ihn an der Schulter und wollte ihn ins Haus zerren. Erschrocken machte sich Nick steif.
»Komm rein, die Polizei ist hinter dir her, weißt du das nicht?«, zischte sie mit gedämpfter Stimme. Nick ließ sich hineinziehen, und sie machte die Tür hinter ihm zu.
»Nick, mein lieber, lieber Junge!« Nicht zu fassen – sie freute sich! Sie umarmte ihn, als wäre er ihr Kind. Hinter ihr standen Grace und Joe, die unwillkürlich lächeln mussten, so ansteckend war Jennys Freude.
Jenny wirbelte herum und zeigte mit dem Finger auf Grace. »Halt ja die Klappe«, sagte sie. »Ich warne dich.« Grace blickte finster und wandte sich ab. »Komm, Nick – wir müssen reden«, fügte Jenny hinzu und zog ihn in die Küche.
»Die waren schon hier und haben nach dir gefragt«, erzählte sie. Er setzte sich an den Küchentisch, sie machte sich am Herd zu schaffen. Alle Frauen wollten seine Mutter sein – allerdings nur für ein oder zwei Nächte.
»Waren sie hier?«
Jenny nickte. »Sie haben gesagt, ich soll mich melden, sobald du hier auftauchst. Sie waren sich ziemlich sicher, dass du herkommen wirst. Das Problem ist …« Sie blickte sich zu ihm um. »Sie sagen, du bist gefährlich, Nick!«
»Gefährlich?«, staunte Nick.
»Rücksichtslos. Gewalttätig.« Jenny blickte ihn an und gab sich Mühe, das Fragezeichen aus ihrem Gesicht zu verbannen.
Er zuckte die Achseln. »Ich habe mich geprügelt. Im Heim prügeln sich alle.«
Jenny nickte ihm ermutigend zu.
»Es war übel. Sie haben mich eingesperrt – in eine Zelle. Einzelhaft«, erklärte er. »Ich glaub, ich bin ein bisschen ausgeflippt.«
Jenny glotzte. »Einzelhaft?«, fragte sie.
»Ja.«
»Verdammte Scheiße, das klingt heftig. Du hast diesen Jungen ganz schön zugerichtet, was?«
»Ja. Aber wir sind Kumpels. Wir haben uns wieder vertragen.«
Jenny wandte sich ab. »Bohnen auf Toast, zwei Spiegeleier«, sagte sie und stellte den Teller vor ihn hin. Sie setzte sich mit ihrem Tee zu ihm an den Tisch und schaute ihm beim Essen zu. Dann lehnte sie sich zurück und zündete sich eine Zigarette an. »Du bleibst jetzt hier«, sagte sie zu ihm. »Mir egal, was diese Batty Batts und die alle sagen – hier ist dein Zuhause. Ich habe mit deiner Mum vereinbart, wenn einer von uns beiden was passiert, kümmert sich die andere um die Kinder. Also gehörst du jetzt zu mir.«
Nick sagte nichts. Er aß nur und hörte zu.
»Den Saftarsch hab ich rausgeschmissen«, sagte Jenny und meinte damit Ray, der damals betrunken zum Abendessen gekommen war – vor ein paar Monaten erst. Sie nickte bekräftigend. Grace erwähnte sie nicht, Nick wusste ja nicht, welche Rolle sie bei dem Fiasko gespielt hatte. Jenny hatte Grace ein paarmal zurechtgestutzt und sie am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Es wurde besser.
Jenny hatte das eigenartige Gefühl, Nick zu Dankbarkeit verpflichtet zu sein. Denn diese ganze Geschichte hatte dazu geführt, dass sie sich zum ersten Mal wirklich darauf konzentriert
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