Nicholas Dane (German Edition)
zwang sich zu einem Grinsen. »Eingesperrt«, sagte er.
»Alter! Die haben dich eingesperrt und deswegen konntest du nicht zur Beerdigung deiner Mutter?«
»Ich hab mich geprügelt.«
»Boah. Mit wem?«
»Mit ’nem Erzieher.« Er nickte. »Die behandeln dich wie Scheiße, also habe ich sie auch behandelt wie Scheiße.« Er hielt inne, wusste nicht, wie er fortfahren sollte. »Die schlagen dich wie ’n Mann.«
Simon antwortete nicht. Er guckte nur.
»Wir mussten abhauen, über ’ne Mauer«, sagte Nick und tastete sich langsam in die Rolle des Desperados hinein. »Die haben Hunde auf uns gehetzt.«
»Was für Hunde?«
»Schäferhunde und Dobermänner«, sagte Nick sofort. »Ich bin abgehauen, Alter. Sag das aber nicht deiner Mum, okay?«
»Niemals. Ist das abgefahren«, sagte Simon. Seine großen Augen wurden größer denn je. Sie fielen ihm fast aus dem Kopf. Als hätte er einen Popstar vor sich.
Nick fuhr fort und präsentierte seinem Freund eine ganze Ladung von Wahrheiten, Halbwahrheiten und Übertreibungen, und immer war er der Held. Er erzählte von Hunden, Tunneln unter dem Stacheldrahtzaun, mitternächtlichen Hetzjagden, vom Hintergehen und Reinlegen der Erzieher. Von Rache, Hinterlist und Wagemut. Was hätte er sonst sagen sollen? »Echt, Alter, ich bin immer wieder zusammengeschlagen worden, bin von einer Gruppe älterer Männer in miefigen Anzügen vergewaltigt worden, und nachdem ich das erste Mal abgehauen bin, haben sie mich gefoltert und mich in eiskaltes Wasser gesteckt, bis ich geschluchzt habe wie ein kleines Kind.«
Nick hatte kein Geld, keine Eltern, keine Schule, kein Zuhause, nichts. Aber er wollte in den Augen seiner Freunde nicht als Opfer dastehen. Also suchte er sich eine andere Rolle. Er war auf der Flucht – ein Geächteter. Romantik pur. Während er seine Geschichten erzählte, wurde Nick plötzlich klar, dass alles gut werden würde. Er hatte gedacht, er hätte sich im Heim in eine Art Monster verwandelt. Aber nein. Er war ein Desperado. Eine Art Kriegsgefangener. Er war gefoltert worden, er war entkommen. Er war auf der Flucht. Der alte Nick! Alles war ein einziges Abenteuer.
Das Essen kam, und es war göttlich. Zwei Eier, Bohnen, drei fette Würstchen, ein Haufen Speck, Brot und Butter. Sogar zwei saftige Pilze waren auf dem Teller. Nick fing an zu essen, manierlich, aber so schnell, dass alles im Nu verschwunden war. Mrs Simon sah ungläubig zu. Sie räumte den Teller weg und kam mit einer Riesenportion Apfel-Streusel mit kalter Vanillesoße zurück. Danach fühlte sich Nick wie ein Python, der gerade einen Büffel verdrückt hat – er wollte sich einfach hinlegen, zusammenrollen und drei Monate schlafen.
Simon wäre lieber losgezogen, hätte noch mehr Geschichten gehört und ein paar Kumpels getroffen, aber es war schon spät.
»Nick wird doch zurückmüssen, oder, Nick?«, fragte Mrs Simon.
»Ja, ja, aber die Busse fahren ziemlich lange.«
»Du kannst auch hierbleiben, wenn du willst«, schlug sie vor.
Nick warf einen Blick zu Simon rüber und grinste. »Das wär super.«
»Klar, Nick – für dich haben wir immer Platz. Aber du solltest lieber die Freundin von deiner Mutter anrufen«, fügte sie hinzu und deutete mit dem Kopf auf das Telefon in der Ecke.
Nick zögerte nicht einen Moment. In vier Monaten in Meadow Hill hatte er gelernt, mit einem Engelsgesicht zu lügen. Er ging zum Telefon, wählte irgendeine Nummer … und zufälligerweise ging jemand ran.
»Hi, Jenny«, sagte Nick.
»Ich glaube, da hast du dich verwählt.«
»Kann ich heute Nacht bei Simon bleiben?«
»Wer ist denn da?«
»Bestimmt, ich komm dann morgen irgendwann. Okay?«
»Wer bist du?«
»Super. Kein Problem. Bis morgen dann.«
Er legte den Hörer auf und reckte Mrs Simon den Daumen entgegen. Alles klar. Er hatte ein Bett für die Nacht. Er hatte das Gefühl, er wäre gerade auf eine Goldader gestoßen.
Simon und Nick sahen fern und Simons Mutter machte Nick in Simons Zimmer ein Bett zurecht, dann ging sie schlafen. Nick erzählte von seinen Abenteuern auf der Straße, den Nix-wie-weg-Fritten, dem Rohrstock, den Aufsichtsschülern und der Flucht, und Simon erzählte ihm das Neueste aus der Schule, von ihren Freunden, den Jungs und den Mädchen. Er hätte gerne noch ewig so weitergemacht, aber Nick schlief plötzlich ein, fast mitten im Satz.
»Nick? Nick? Schläfst du?«, fragte Simon, jedoch nicht sehr laut. Er beugte sich vor und blickte seinem Freund ins Gesicht. Nick
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