Nicholas Flame Bd. 1 Der Unsterbliche Alchemyst
verbranntes Holz und spürte eine kühle Brise über ihre Hände wehen. Sie schaute auf sich hinunter. Hauchzarte weiße Spinnfäden schlängelten sich aus den Fingerspitzen der Hexe und legten sich wie eine Mullbinde um jeden Einzelnen von Sophies Fingern, dann über die Mittelhand, über das Handgelenk, und schließlich wanderten sie ihren Arm hinauf. Da merkte sie, dass die Hexe sie mit ihren Fragen nur abgelenkt hatte.
Sophie schaute in ihre Spiegelaugen und stellte fest, dass sie ihre eigenen Fragen nicht in Worte fassen konnte. Es war, als hätte sie die Fähigkeit zu sprechen verloren. Es überraschte sie, dass sie sich nicht fürchtete, aber von dem Augenblick an, als die Hexe ihre Hände ergriffen hatte, war ein tiefes Gefühl der Ruhe und des Friedens über sie gekommen. Sie blickte zu Scatty und Flamel hinüber, die alles mit großen Augen verfolgten.
Auf Scattys Gesicht stand das blanke Entsetzen. »Gran… bist du dir ganz sicher?«
»Natürlich bin ich mir sicher«, fauchte die Hexe ärgerlich.
Und selbst während die Hexe von Endor mit Scatty sprach, hörte Sophie ihre Stimme in ihrem Kopf, hörte, wie sie mit ihr redete, uralte Geheimnisse flüsterte, archaische Zauberformeln murmelte und das Wissen eines langen Lebens innerhalb weniger Herzschläge und Atemzüge weitergab.
»Das ist kein Spinnennetz«, erklärte Dora einem sprachlosen Flamel, als sie merkte, wie er sich vorbeugte und fassungslos auf die Fäden starrte, die sich um Sophies Arme wanden. »Es ist konzentrierte Luft, vermischt mit meiner eigenen Aura. Mein gesamtes Wissen, meine Erfahrungen, selbst meine Intuition sind in diesem Luftnetz eingeschlossen. Sobald es Sophies Haut berührt, fängt sie an, das Wissen in sich aufzunehmen.«
Sophie atmete die nach Holz riechende Luft tief ein. Mit unglaublicher Geschwindigkeit zuckten Bilder durch ihren Kopf – Bilder von längst vergangenen Zeiten und Orten: von Zyklopen gebaute Mauern, Schiffe aus purem Gold, Dinosaurier und Drachen, eine in einen Eisberg geschnitzte Stadt, Wertiere und Monster und Gesichter… Hunderte, Tausende von Gesichtern von menschlichen und halbmenschlichen Wesen aus allen Zeiten. Sie sah alles, was die Hexe von Endor jemals gesehen hatte.
»Die Ägypter haben mich falsch verstanden«, fuhr Dora fort. Ihre Hände bewegten sich jetzt so schnell, dass Flamel die Bewegungen nicht mehr verfolgen konnte. »Sie wickelten die Toten ein. Sie erkannten nicht, dass ich die Lebenden einwickelte. Es gab eine Zeit, in der ich ein wenig von mir selbst in meine Nachfolger legte und sie in die Welt hinausschickte, um in meinem Namen zu lehren. Offenbar beobachtete jemand den Prozess und versuchte ihn nachzumachen.«
Plötzlich sah Sophie ein Dutzend junger Leute, eingewickelt wie sie, und eine jünger aussehende Dora, die in einem Gewand, wie man es vielleicht im alten Babylon getragen hatte, zwischen ihnen hin und her ging. Sophie wusste intuitiv, dass dies die Priester und Priesterinnen der Gemeinde waren, die der Hexe huldigten. Dora gab etwas von ihrem Wissen an sie weiter, damit sie hinausgehen konnten in die Welt und andere lehrten.
Das weiße, luftige Netz legte sich jetzt um Sophies Beine und band sie zusammen. Unbewusst hob sie die Arme und legte die rechte Hand auf die linke Schulter und die linke Hand auf die rechte Schulter. Die Hexe nickte anerkennend.
Sophie schloss die Augen und sah Wolken. Ohne zu wissen, woher, hatte sie ihre Namen parat: Zirrus, Zirrokumulus, Altostratus und Stratokumulus, Nimbostratus und Kumulus. Alle unterschiedlich und jeder Typus mit einzigartigen Merkmalen und Eigenschaften. Und plötzlich wusste sie, wie sie sie nutzen konnte, formen und beeinflussen und bewegen.
Bilder flackerten auf.
Standen hell leuchtend vor ihrem inneren Auge.
Sie sah eine sehr kleine Frau unter einem klaren, blauen Himmel stehen und eine Hand heben, und dann bildete sich direkt über ihr eine Wolke. Regen fiel auf ein ausgedörrtes Feld.
Das nächste Bild.
Ein großer, bärtiger Mann stand am Ufer eines Meeres und hob die Hand und ein kräftiger Wind teilte die Wogen.
Und das nächste.
Eine junge Frau stoppte mit einer einzigen Handbewegung einen tobenden Sturm, lief in eine windschiefe Hütte und holte ein Kind heraus. Einen Herzschlag später fraß der Sturm das Haus auf.
Sophie beobachtete die Szenen und lernte daraus.
Die Hexe von Endor berührte Sophies Wange. Sophie öffnete die Augen. Das Weiße darin war mit silbernen Pünktchen gesprenkelt.
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