Nicholas Flame Bd. 1 Der Unsterbliche Alchemyst
dann auf die alte Dame und wieder zurück zum Spiegel. Dann nickte sie ihrem Bruder zu. Er hatte recht.
Dora baute sich vor Scathach auf, das Gesicht einem hohen Spiegel zugewandt, der rechts von ihr stand. »Du hast abgenommen. Isst du auch ordentlich?«
»Gran, so sehe ich schon seit zweieinhalbtausend Jahren aus!«
»Willst du damit andeuten, dass ich langsam blind werde, he?«, fragte die Alte und brach dann in ein erstaunlich tiefes Lachen aus. »Komm, nimm deine alte Großmutter mal in die Arme.«
Scathach drückte sie vorsichtig und küsste sie auf die Wange. »Schön, dich wiederzusehen, Gran. Du siehst gut aus.«
»Ich sehe alt aus. Sehe ich alt aus?«
Scatty lächelte. »Keinen Tag älter als zehntausend.«
Die Hexe kniff Scatty in die Wange. »Die letzte Person, die sich über mich lustig gemacht hat, war ein Steuerinspektor. Ich habe ihn in einen Briefbeschwerer hineingezaubert. Das Ding muss hier noch irgendwo rumstehen.«
Flamel hüstelte diskret. »Madame Endor…«
»Nenn mich Dora«, schnaubte die alte Frau.
»Dora. Weißt du, was heute Morgen in Hekates Schattenreich passiert ist?« Er war der Hexe noch nie begegnet, kannte sie nur vom Hörensagen, aber er wusste, dass sie mit äußerster Vorsicht zu behandeln war. Sie war die legendäre Erstgewesene, die Danu Talis Jahrhunderte bevor die Insel im Wasser versank, verlassen hatte, um bei den Humani zu leben und sie zu unterrichten. Es hieß, dass sie im alten Sumerien das erste Humani-Alphabet erfunden hatte.
»Holt mir einen Stuhl«, sagte Dora zu niemand Bestimmtem. Sophie brachte den Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, und Scatty rückte ihn ihrer Großmutter zurecht. Die alte Dame beugte sich vor, beide Hände auf den weißen Stock gestützt. »Ich weiß, was geschehen ist. Sicherlich hat jede und jeder Erstgewesene auf diesem Kontinent ihren Tod gespürt.« Sie sah in die ihr zugewandten überraschten Mienen. »Wusstet ihr das nicht?« Sie drehte den Kopf so, dass sie in einen Spiegel schauen konnte, der direkt gegenüber von Scatty hing. »Hekate ist tot und ihr Schattenreich ist untergegangen. Wie ich gehört habe, sind eine Erstgewesene, eine aus der nächsten Generation und ein unsterblicher Mensch verantwortlich für ihren Tod. Hekate muss gerächt werden. Nicht jetzt und vielleicht auch noch nicht in nächster Zukunft. Aber sie war ein Familienmitglied und ich bin es ihr schuldig. Übernimm du es.«
Scatty verbeugte sich leicht.
Die Hexe von Endor hatte das Todesurteil vollkommen ruhig ausgesprochen, und Flamel wurde sich plötzlich bewusst, dass die Frau noch gefährlicher war, als er angenommen hatte.
Dora drehte den Kopf und Flamel konnte ihr Gesicht jetzt in einem Spiegel mit einem kunstvoll verzierten Silberrahmen betrachten. Sie tippte auf das Glas. »Ich habe schon vor einem Monat gesehen, was heute Morgen geschah.«
»Und du hast Hekate nicht gewarnt?«, rief Scatty.
»Es war der Verlauf einer möglichen Zukunftsvariante. Einer von vielen. In einigen anderen tötete Hekate Bastet und den Morrigan-Auswurf Dee. In wieder einer anderen tötete Hekate dich, Mr Flamel, und wurde dafür von Scathach umgebracht. Alles mögliche Versionen der Zukunft. Heute habe ich erfahren, welche eingetreten ist.« Sie schaute sich im Raum um, wandte das Gesicht einem Spiegel zu, einer polierten Vase und dem Glas eines Bilderrahmens. »Ich weiß also, weshalb ihr hier seid, ich weiß, was ihr von mir wollt. Und ich habe mir meine Antwort lange und reiflich überlegt. Ich hatte schließlich einen Monat Zeit dazu.«
»Was ist mit uns?«, fragte Sophie dazwischen. »Sind wir auch vorgekommen in Ihren Zukunftsversionen?«
»Ja, in einigen.«
»Und was ist mit uns passiert?« Die Frage war Josh herausgerutscht, ohne dass er Zeit gehabt hatte, darüber nachzudenken. Er wollte die Antwort ganz bestimmt nicht wissen.
»In den meisten haben schon Dee und seine Golems oder die Vögel und Ratten euch umgebracht. Ein paarmal hattet ihr einen Autounfall, seid beim Erwecken eurer Kräfte gestorben oder beim Untergang des Schattenreiches.«
Josh schluckte. »Und in wie vielen Versionen haben wir überlebt?«
»Nur in einer.«
»Das klingt nicht gut, oder?«, fragte er leise.
»Nein«, erwiderte die Hexe rundheraus, »überhaupt nicht.« Es entstand eine Pause, in der Dora in die polierte Wand eines silbernen Übertopfes schaute. Unvermittelt ergriff sie wieder das Wort: »Als Allererstes solltet ihr wissen, dass ich den Jungen nicht erwecken
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