Nicholas Flame Bd. 1 Der Unsterbliche Alchemyst
das sind wir!«, sagte Josh, wobei er unbewusst flüsterte.
»Die Humani – die menschliche Rasse«, ergänzte Sophie und schwieg wieder, als Flamel weitersprach.
»Ist das der Grund, weshalb das Buch in meine Obhut gegeben wurde?«
»Du bist nicht der erste Humani, der… den Codex hütet«, erwiderte Hekate vorsichtig. »Er hätte überhaupt nie geschaffen werden dürfen«, schnaubte sie unvermittelt, und über ihr Gewand liefen schimmernde rote und grüne Linien. »Ich war dafür, dass jede Seite einzeln in den nächsten Vulkan geworfen wird und Abraham gleich mit dazu.«
»Warum wurde es nicht vernichtet?«, fragte Flamel.
»Weil Abraham das zweite Gesicht hatte. Er konnte die sich abrollenden Fäden der Zeit sehen, und er prophezeite, dass der Tag käme, an dem der Codex und alles Wissen, das er enthält, gebraucht würde.«
Scatty trat zu Flamel. Ihre Hand mit dem Bogen hing locker an der Seite herunter, aber sie bemerkte, dass Hekate sie mit ihren buttergelben Augen ganz genau beobachtete.
»Das Buch der Magie hatte immer einen Hüter«, erklärte Scathach Flamel. »Einige werden über die Legenden, die es von ihnen gibt, immer als große Heldengestalten in Erinnerung bleiben. Andere – und zu denen gehörst auch du – sind weniger bekannt, und wieder andere blieben ganz im Verborgenen.«
»Und wenn ich, ein Mensch, zum Hüter dieses kostbaren Codex ausersehen wurde, weil die Erstgewesenen ihn nicht anschauen, geschweige denn anfassen können, ist folglich ganz klar, dass ein anderer Mensch dazu ausersehen werden musste, ihn ausfindig zu machen«, sagte Flamel. »Und zwar Dee.«
Hekate nickte. »Ein gefährlicher Feind, Dr. John Dee.«
Flamel spürte die kühlen, trockenen Buchseiten auf seiner Haut. Ihm war bewusst, dass er, obwohl der Codex nun schon über ein halbes Jahrtausend in seinem Besitz war, gerade eben angefangen hatte, an der Oberfläche seiner Geheimnisse zu kratzen. Er hatte immer noch keine genaue Vorstellung davon, wie alt er war. In Gedanken schob er den Zeitpunkt seiner Entstehung immer weiter nach hinten. Als er das Buch im 14. Jahrhundert zum ersten Mal in Händen hielt, dachte er, es sei 500 Jahre alt. Als er dann mit seinen Nachforschungen begann, gab er ihm erst 800 Jahre, dann 1000, dann 2000 Jahre. Im letzten Jahrhundert schließlich, nach den Erkenntnissen der neuesten Entdeckungen in den Grabstätten Ägyptens, hatte er das Alter des Buches noch einmal korrigiert und es auf 5000 Jahre geschätzt. Und jetzt behauptete Hekate, die über 10 000 Jahre alt war, dass Abraham, jener geheimnisumwitterte Magier, das Buch zu ihren Lebzeiten verfasst hätte. Aber wenn das Ältere Geschlecht – die Götter aus den Mythen und Legenden – das Buch weder anfassen noch anschauen konnten, was war dann Abraham, sein Schöpfer? War er ein Erstgewesener, ein Humani oder etwas anderes? Gehörte er einer der vielen uralten Rassen an, die in jenen ersten Tagen die Erde bevölkerten?
»Warum bist du gekommen?«, fragte Hekate. »Ich wusste sofort, nachdem es passiert war, dass dir der Codex gestohlen wurde, aber ich kann dir bei der Suche danach nicht helfen.«
»Ich bin aus einem anderen Grund hierhergekommen«, sagte Flamel. Er trat näher an Hekate heran und senkte die Stimme, sodass sie sich zu ihm herbeugen musste, um ihn zu verstehen. »Als Dee mich angriff, das Buch an sich nahm und Perenelle zu seiner Gefangenen machte, kamen uns zwei Humani zu Hilfe. Ein junger Mann und seine Schwester.« Er machte eine kleine Pause, bevor er hinzufügte: »Zwillinge.«
»Zwillinge?«, wiederholte sie, die Stimme so ausdruckslos wie ihr Gesicht.
»Ja, Zwillinge. Schau sie dir an, und dann sage mir, was du siehst.«
Hekates Blick ging Richtung Wagen. »Einen Jungen und ein Mädchen, die T-Shirts und Jeans tragen, die schäbige Uniform dieser Zeit. Mehr sehe ich nicht.«
»Schau genauer hin. Und denke an die Prophezeiung.«
»Ich kenne die Prophezeiung. Maße dir nicht an, mich meine eigene Geschichte lehren zu wollen!« Hekates Augen blitzten und wechselten kurz die Farbe, wurden dunkel und hässlich. »Humani? Ausgeschlossen!« Sie marschierte an Flamel vorbei und schaute in den Wagen, betrachtete zuerst Sophie, dann Josh.
Den Zwillingen fiel gleichzeitig auf, dass ihre Pupillen länglich und schmal waren wie die einer Katze und dass sie nadelspitze Zähne hatte.
»Silber und Gold«, flüsterte Hekate unvermittelt. Sie hatte sich erneut Flamel zugewandt und ihr Akzent war stärker geworden.
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