Nicholas Flame Bd. 1 Der Unsterbliche Alchemyst
Blumeninseln durchsetzt war, stand ein Baum. Er war so hoch und breit wie ein großer Wolkenkratzer. Auf den belaubten Ästen des Wipfels lag ein Kranz aus weißen Wolkenfetzen und die wie Krallenfinger über der Erde liegenden Wurzelteile hatten die Größe von Autos. Der Baumstamm war knorrig und verdreht und die Rinde wies tiefe Kerben auf. Lange Ranken wanden sich wie dicke Rohre um den Stamm und baumelten von den Ästen.
»Hekates Heim«, erklärte Flamel. »Ihr seid seit zweitausend Jahren die ersten lebenden Humani, die es zu sehen bekommen. Selbst ich habe bisher nur darüber gelesen.«
Scatty musste lachen, als sie die Gesichter der Zwillinge sah. Sie stieß Josh an. »Was hast du denn gedacht, wo sie wohnt? In einem Wohnwagen?«
»Ich habe gar nichts… also, ich weiß nicht… ich dachte nicht …«, stammelte Josh. Der Anblick war so atemberaubend, und von dem wenigen, das er in Biologie gelernt hatte, wusste er, dass kein lebendiger Organismus so groß werden konnte. Kein normaler lebendiger Organismus, korrigierte er sich in Gedanken.
Sophie fand, der Baum sähe aus wie eine uralte, bucklige Frau. Wenn Flamel über seine fast siebenhundertjährige Vergangenheit sprach oder eine zweitausend Jahre alte Kriegerin und eine zehntausend Jahre alte Göttin, dann war das gut und schön. Die Zahlen bedeuteten fast gar nichts, weil man sie ihren Gesichtern nicht ansah. Den Baum mit eigenen Augen zu sehen, war dagegen etwas ganz anderes. Sophie und ihr Bruder hatten schon vorher alte Bäume gesehen. Ihre Eltern hatten ihnen die gigantischen, dreitausend Jahre alten Mammutbäume gezeigt, und sie hatten eine Woche lang mit ihrem Vater in den White Mountains im Norden Kaliforniens gezeltet, als er den Methusalembaum untersuchte, der mit fast fünftausend Jahren als der älteste lebende Organismus auf unserem Planeten gilt. Wenn man vor dem Methusalembaum stand, einer knorrigen Grannenkiefer, fiel es einem nicht schwer, sein hohes Alter zu akzeptieren. Als Sophie Hekates Baumhaus betrachtete, war sie fest überzeugt, dass es noch Jahrtausende älter war.
Sie waren einem mit glatt polierten Steinen gepflasterten Weg gefolgt, der direkt zu dem Baum führte. Beim Näherkommen stellten sie fest, dass er einem Wolkenkratzer ähnlicher war, als sie anfangs gedacht hatten. Hunderte von Fenstern waren in die Rinde geschnitten und man sah Licht in den dahinter liegenden Räumen. Doch erst als sie vor dem Haupteingang standen, konnten sie ermessen, was für einen gewaltigen Umfang der Baum tatsächlich hatte. Die glatt geschliffene Doppeltür war mindestens sechs Meter hoch und doch öffnete sie sich auf lediglich einen leichten Fingerdruck von Flamel. Die Zwillinge betraten eine riesige runde Eingangshalle.
Und blieben wie angewurzelt stehen.
Der Baum war innen vollkommen hohl. Von da, wo sie standen, konnten sie hinaufschauen bis dorthin, wo Wolkenfetzen im Baum trieben. Eine Treppe wand sich innen am Stamm hinauf, und alle paar Stufen gab es eine Türöffnung, aus der Licht drang. Dutzende kleiner Wasserfälle sprudelten aus der Wand; das Wasser sammelte sich in einem riesigen runden Becken, das den größten Teil der Eingangshalle einnahm. Die Wände waren glatt und ohne Schmuck, mit Ausnahme der knotigen Ranken, die aus der Oberfläche wuchsen. Josh fand, sie sahen aus wie Venen.
Und außer ihnen war keine Menschenseele zu sehen.
Nichts und niemand bewegte sich in dem Baum, weder Mensch noch Tier kletterte die unzähligen Stufen hinauf und kein Vogel flog in der feuchten Luft.
»Willkommen in Yggdrasill«, sagte Nicholas Flamel und trat zur Seite, damit sie weitergehen konnten. »Willkommen im Weltenbaum.«
Jetzt hielt Josh sein Handy hoch; auf dem Display war nichts zu sehen. »Ist dir auch schon aufgefallen, dass es keine Steckdosen gibt?«, fragte er.
»Es muss welche geben«, widersprach Sophie, ging zum Bett und ließ sich auf Hände und Knie nieder. »Steckdosen sind immer hinter dem Bett…«
Aber da waren keine.
Die Zwillinge schauten sich in Joshs Raum um. Er sah ganz genauso aus wie der von Sophie. Alles um sie herum war aus einem hellen honigfarbenen Holz, der auf Hochglanz polierte Fußboden genauso wie die glatten Wände. In den Fenstern waren keine Scheiben, und die Tür war aus einem hauchdünnen hölzernen Rechteck, das aussah und sich anfühlte wie papierdünne Baumrinde. Das einzige Möbelstück war das Bett, ein niederer Futon mit einem schweren Überwurf aus Fell. Davor lag ein
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