Nicholas Flame Bd. 1 Der Unsterbliche Alchemyst
hundert Jahre vorher selbst gegründet hatten. Sie lebten und arbeiteten buchstäblich im Schatten der großen Kathedrale von Nôtre Dame. Dee war in geheimer Mission für die Königin in Paris, doch ein Blick auf den schlanken dunkelhaarigen Mann und seine grünäugige Frau, die zusammen in den hohen Räumen des Krankenhauses arbeiteten, genügte, und er wusste, wen er vor sich hatte.
Dee gehörte damals zu den wenigen Menschen auf der Welt, die eine Ausgabe von Flamels Meisterwerk » Eine Zusammenfassung der Philosophie « besaßen. Auf der dem Innentitel gegenüberliegenden Seite war ein Stich des berühmten Alchemysten abgebildet. Als Dee sich bei dem Arzt und seiner Frau vorstellte und sie mit ihren richtigen Namen anredete, widersprachen sie nicht. Sie hatten natürlich auch schon von dem berühmten Dr. John Dee gehört. Perenelle hatte zwar Bedenken, doch Nicholas war hocherfreut, den englischen Magier in die Lehre zu nehmen. Dee zog sofort nach Paris und arbeitete die nächsten vier Jahre unter Nicholas und Perenelle.
Und es war in Paris, im Jahr 1575, als er von der Existenz des Älteren Geschlechts erfuhr.
Er hatte spät in der Nacht in seinem kleinen Dachzimmer im Haus der Flamels noch gelesen, als ein Geschöpf wie aus einem Albtraum den Schornstein herunterrutsche und zwischen Holz- und Kohlestückchen auf den Kaminvorleger krabbelte. Bei dem Geschöpf handelte es sich um eine Chimäre aus dem alten Geschlecht der Ghule, welche die Kloaken und die Friedhöfe der meisten europäischen Städte heimsuchten. Das Geschöpf aus marmorartigem Fleisch und mit kohlschwarzen Augen ähnelte den in Stein gehauenen Dämonen, die die Kathedrale direkt gegenüber dem Flamel’schen Haus schmückten.
Die Chimäre sprach eine archaische Form des Griechischen und lud Dee zu einem Treffen auf dem Dach der Kathedrale ein. Dee erkannte schnell, dass er diese Einladung nicht ausschlagen konnte, und so folgte er dem Geschöpf hinaus in die Nacht. Es sprang in großen Sätzen davon, manchmal auf zwei, oft auf vier Beinen, und führte ihn durch immer schmaler werdende Gassen hinunter in die Kanalisation und schließlich durch eine verborgene Tür in die riesige Kathedrale hinein. Er folgte der Chimäre die 1001 in die Innenwand gehauenen Stufen hinauf zum Dach der gotischen Kathedrale.
»Warte«, hatte sie befohlen und danach geschwiegen.
Ihre Mission schien beendet. Sie ignorierte Dee und setzte sich auf die Brüstung, vornübergebeugt, die Flügel über den Schultern gefaltet, den Schwanz auf dem Rücken zusammengeringelt. Aus ihrer Stirn wuchsen kleine Hörnchen. Sie ließ den Blick über den Platz weit unten schweifen und verfolgte die Bewegungen der Nachtschwärmer und derjenigen, die kein Zuhause hatten – vermutlich auf der Suche nach einer geeigneten Mahlzeit. Hätte jemand zufällig von unten heraufgeschaut, er hätte die Chimäre nicht von den unzähligen Steinskulpturen an dem Gebäude unterscheiden können.
Dee trat an den Rand des Daches und schaute über die Stadt. Das nächtliche Paris lag weithin unter ihm ausgebreitet, Tausende winziger Lichter von Feuerstellen, Öllampen und Kerzen, deren Rauchfahnen pfeilgerade in die windstille Nacht aufstiegen. Der Teppich aus unzähligen Lichtpünktchen wurde von dem schwarzen, sich windenden Band der Seine durchschnitten. Dee hörte die Geräusche der Stadt – ein leises Dröhnen wie im Bienenstock, wenn die Tiere sich für die Nacht niederlassen – und er roch die übel stinkende Dunstwolke, die über den Straßen hing – eine Mischung aus Abwässern, faulendem Obst und verdorbenem Fleisch, menschlichen und tierischen Ausdünstungen und dem Gestank des Flusses selbst.
Dee kauerte über der berühmten Fensterrose der Kathedrale und wartete. Das Studium der Magie hatte ihn viel gelehrt – an erster Stelle Geduld. Der Gelehrte in ihm genoss es, auf dem Dach des höchsten Gebäudes von Paris zu stehen, und er wünschte, er hätte seinen Skizzenblock mitgebracht. So musste er sich damit zufriedengeben, sich umzuschauen und alles, was er sah, in seinem bemerkenswerten Gedächtnis abzuspeichern.
Ein Besuch vor nicht allzu langer Zeit in Florenz fiel ihm ein. Er war in die Stadt am Arno gereist, um die Tagebücher von Leonardo da Vinci zu studieren. Sie waren in einer merkwürdigen Geheimschrift verfasst, und bis jetzt war es noch niemandem gelungen, sie zu entschlüsseln. Er hatte es in einer knappen Stunde geschafft, nachdem er dahintergekommen war, dass Leonardo
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