Nicholas Flame Bd. 1 Der Unsterbliche Alchemyst
die Treppe hinunter.
Anfangs zählte er noch die Stufen, gab dies aber bald auf, abgelenkt von der Dekoration an den Wänden, der Decke und selbst auf den einzelnen Stufen. Es war, als betrete er ein ägyptisches Grab, doch anders als in den zahllosen Gräbern, die er gesehen hatte und wo die Ausschmückungen verblasst waren, angeschlagen und zerbrochen, waren sie hier unbeschädigt, und die Farben leuchteten. Die bläulich weiße Lichtkugel, die er trug, verfälschte die Farben zwar etwas, doch sie sahen aus, als seien sie frisch aufgebracht worden. Die Piktogramme und Hieroglyphen wirkten lebendig und hatten scharfe Konturen und die Namen der Götter waren in glänzendem Blattgold aufgebracht.
Ein Luftstrom von unten ließ den leuchtenden Ball in seiner Hand flackern und tanzen, sodass die Schatten hierhin und dorthin schossen. Dee blähte die Nasenflügel. Der Wind trug ihm einen Geruch zu von etwas Altem… etwas Altem und lange Totem.
Die Treppe mündete in einen weiten Gewölbekeller. Beim ersten Schritt knirschte und knackte es unter seinen Füßen. Er senkte die Hand, damit das Licht den Boden ausleuchtete, und sah, dass er mit zahllosen weißen Knöchelchen bedeckt war wie mit einem elfenbeinfarbenen Teppich. Es dauerte einen Augenblick, bevor Dee erkannte, dass es sich um Mäuse- und Rattenknochen handelte. Einige waren so alt, dass sie zu weißem Pulver zerfielen, wenn er daranstieß, doch es waren auch frische darunter. Dee stellte die Frage, auf die er eigentlich gar keine Antwort haben wollte, lieber nicht und folgte seinem schweigsamen Führer über die knackenden Knochen hinweg. Er hob die Hand und leuchtete die Kellerwände an. Im Gegensatz zum Treppenhaus waren sie ohne allen Schmuck. Sie hatten schwarze Streifen von der Feuchtigkeit, dicht am Boden hatte sich grünlicher Schimmel gesammelt und an der Decke wuchsen Pilze.
»Sieht so aus, als hätten Sie ein Problem mit der Feuchtigkeit«, bemerkte Dee völlig unnötigerweise, nur um das Schweigen zu brechen.
»Es spielt keine Rolle«, erwiderte Senuhet leise.
»Sind Sie schon lange hier?«, erkundigte sich Dee, während er sich umsah.
»An diesem Ort?« Der andere Mann überlegte kurz. »Noch keine hundert Jahre. Das ist eigentlich gar nichts.«
Etwas bewegte sich in der Dunkelheit.
»Und viel länger werden wir hier nicht mehr bleiben, nicht wahr, Dr. Dee?« Die Stimme klang wie eine Mischung aus einem sinnlichen Raunen und einem Schnurren; die Sprecherin hatte offenbar Mühe mit der Aussprache der englischen Wörter. Fast gegen seinen Willen hob Dee die Hand, damit er die große, schlanke Gestalt, die sich da im Schatten bewegte, erkennen konnte. Das Licht glitt über bloße Füße mit schwarzen, klauenspitzen Nägeln, dann hinauf zu einem schweren, kiltähnlichen weißen Rock, bestickt mit kostbaren Edelsteinen, über einen Brustkorb, über dem sich breite, mit ägyptischen Buchstaben verzierte Bänder kreuzten – bis es schließlich den Kopf erreichte.
Obwohl er gewusst hatte, was ihn erwartete, entfuhr Dee unwillkürlich ein entsetztes Keuchen, als er Bastet sah. Sie hatte den Körper einer Frau, doch der Kopf, der die gewölbte Decke streifte, war der einer Katze: glatter Pelz, große gelbe Augen mit schmalen Pupillen, eine lange, spitze Schnauze und dreieckige Ohren. Der Mund öffnete sich und Dees kaltes Licht beleuchtete gelb schimmernde Zähne. Das war das Wesen, das in ganz Ägypten viele Generationen lang verehrt worden war.
Dee fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen, als er sich tief verbeugte. »Deine Nichte, die Morrigan, lässt dich grüßen. Sie hat mich gebeten, dir auszurichten, dass es Zeit sei, dich an der Dreigesichtigen zu rächen.«
Bastet machte einen Satz auf Dee zu und bohrte rasiermesserscharfe Krallen in sein teures Jackett. Die Seide riss sofort. »Ganz genau… Ich will ganz genau wissen, was meine Nichte gesagt hat«, verlangte sie.
»Du hast es doch gehört.« Dee schaute in das furchteinflößende Gesicht. Bastets Atem roch nach verzehrtem Fleisch. Er warf den blauweißen Lichtball in die Luft, wo er hängenblieb und sich drehte, und löste dann vorsichtig Bastets Klauen aus seiner Jacke. Die konnte er komplett vergessen.
»Die Morrigan will, dass du dich ihrem Angriff auf Hekates Schattenreich anschließt«, sagte Dee, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Dann ist es tatsächlich Zeit!«, rief Bastet triumphierend.
Der Magier nickte; mit jeder Bewegung huschten Schatten über die Wand. »Es
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