Nicholas Flame Bd. 1 Der Unsterbliche Alchemyst
Nacht ein seltsames gräuliches Leuchten. Nur die Schatten waren pechschwarz.
Obwohl es nicht kalt war, fröstelte Sophie. Die Nacht fühlte sich irgendwie … verkehrt an. Josh zog sein Kapuzenshirt aus und legte es seiner Schwester über die Schultern. »Die Sterne sind anders«, murmelte sie. »So hell.« Sie legte den Kopf in den Nacken und versuchte, durch die Zweige des Baumhauses hinaufzuschauen in den Himmel. »Ich sehe den Großen Wagen nicht und der Polarstern ist auch nicht da.«
»Und gestern war kein Mond zu sehen«, ergänzte Josh und wies mit dem Kinn auf den riesigen gelblich weißen Mond, der sich gerade über die Baumwipfel schob. »Nicht in unserer Welt«, fügte er ernst hinzu.
Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Sophie den Mond. Irgendetwas daran stimmte nicht. Sie versuchte, die ihr bekannten Krater zu erkennen, und spürte plötzlich, wie ihr Magen sich hob, als die Erkenntnis sie traf. Ihre Hand zitterte, als sie nach oben zeigte. »Das ist nicht unser Mond!«
Josh kniff die Augen zusammen, damit das Leuchten ihn nicht blendete. Dann sah er, was seine Schwester meinte. »Die Oberfläche ist… anders . Glatter. Wo sind all die Krater? Ich sehe weder Kepler noch Kopernikus und nicht einmal Tycho.«
»Josh«, sagte Sophie atemlos, »ich glaube, wir sehen den Nachthimmel, wie er vor Tausenden von Jahren war, vielleicht sogar vor Hunderttausenden von Jahren.«
Josh erschrak. Im Mondlicht sah Sophies Gesicht aus wie ein Totenschädel. Rasch schaute er wieder weg. Er hatte sich seiner Schwester immer sehr nah gefühlt, doch erst die letzten Stunden hatten ihm so richtig bewusst gemacht, wie viel sie ihm bedeutete.
»Hat Scathach nicht gesagt, Hekate hätte dieses Schattenreich erschaffen?«, fragte er. »Jede Wette, dass sie es nach der Welt gemacht hat, an die sie sich erinnerte.«
»Dann sind das tatsächlich der Nachthimmel und der Mond, wie sie vor Tausenden von Jahren waren«, stellte Sophie ehrfürchtig fest. Sie wünschte, sie hätte ihre Digitalkamera dabei, um das außergewöhnliche Bild des glatten Mondes einzufangen.
Die Zwillinge schauten beide nach oben, als ein Schatten über den Mond zuckte, ein Fleck, der ein Vogel hätte sein können – nur dass die Spannweite der Flügel zu groß war und kein Vogel einen solchen Schwanz hatte.
Josh nahm Sophies Hand und zog sie weiter zum Wagen. »Langsam hasse ich den Ort hier«, brummte er.
Der Geländewagen stand noch dort, wo sie ihn verlassen hatten, mitten auf dem Weg. Der Mond schickte gelbes Licht über die zerschrammte Windschutzscheibe. In der Helligkeit waren auch die Schäden am Blech bestens zu erkennen; die Beulen und Schrammen traten als scharfkantiges Relief hervor. Das Dach war von den Vogelschnäbeln mit Hunderten kleiner Löcher perforiert, der Scheibenwischer an der Rückscheibe baumelte nur noch an einem Stück Gummi und die beiden Seitenspiegel fehlten völlig.
Die Zwillinge betrachteten den SUV schweigend. Erst jetzt begriffen sie das volle Ausmaß der Vogelattacke. Sophie strich mit dem Finger über eine ganze Reihe von Kratzern in der Scheibe auf der Beifahrerseite. Diese knapp zwei Millimeter Glas waren alles gewesen, was sie vor den Schnäbeln und Klauen der Krähen geschützt hatte.
»Fahren wir.« Josh öffnete die Tür und setzte sich auf den Fahrersitz. Der Schlüssel steckte noch.
»Ich komme mir Nicholas und Scatty gegenüber ein wenig schäbig vor, wenn ich einfach so abhaue«, meinte Sophie, als sie auf ihrer Seite einstieg. Aber sie konnte wohl davon ausgehen, dass der unsterbliche Alchemyst und die Kriegerprinzessin besser dran waren ohne sie. Die beiden konnten sich bestens selbst verteidigen. Wenn sie etwas nicht brauchten, waren es zwei Teenager, die ihnen im Weg herumstanden.
»Wir entschuldigen uns bei ihnen, wenn wir sie wiedersehen«, sagte Josh. Insgeheim hoffte er allerdings, dass das niemals der Fall sein würde. Videospiele waren schön und gut. Wenn man getötet wurde, fing man einfach wieder von vorn an. In diesem Schattenreich allerdings gab es keine zweiten Chancen. Dafür aber wesentlich mehr Arten zu sterben.
»Du weißt, wie wir hier wegkommen?«, fragte Sophie.
»Klar.« Ihr Bruder grinste. Seine Zähne schimmerten weiß im Mondlicht. »Wir drehen um. Und wir halten nicht an, egal, was kommt.«
Er drehte den Schlüssel um. Sie hörten ein metallisches Klicken und ein leises Jaulen, das jedoch bald verstummte. Dann war Stille. Josh drehte den Schlüssel noch einmal um.
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