Nicholas Flame Bd. 1 Der Unsterbliche Alchemyst
Menschenwelt wanderte. Die Abneigung der Erstgewesenen gegenüber Eisen bedeutete, dass bestimmte moderne Errungenschaften wie Autos und Flugzeuge für sie nicht infrage kamen. Er verzog die schmalen Lippen zu einem freudlosen Lächeln. Deshalb brauchten sie Leute wie ihn oder Senuhet, die für sie arbeiteten.
Er spürte die Bewegung der Vögel in den Bäumen mehr, als er sie sah. Eine halbe Million Köpfe – vielleicht noch mehr – wandten sich nach Westen. Er folgte der Blickrichtung und suchte nach einem dunklen Fleck am Himmel. Zunächst sah er nichts, doch dann erschien hoch oben eine Gestalt. Die Morrigan kam.
Dee wusste, dass jede Legende einen wahren Kern hat. Als er jetzt in den Himmel hinaufschaute und die schwarze Gestalt von Westen herüberfliegen sah, den Federumhang aufgefächert wie riesige Flügel, glaubte Dee zu wissen, wo die Legende um die Nosferatu-Vampire ihren Ursprung hatte. Er war im Lauf seines langen Lebens etlichen Vampiren begegnet – echten Vampiren -, aber keiner war ihm so furchteinflößend erschienen wie die Krähengöttin.
Die Morrigan holte den Umhang ein und landete direkt vor dem Geländewagen. Die Katzen stoben im letzten Moment auseinander. Dann knurrten sie, ein leises Grollen, das die Luft zittern ließ, und Bastet trat aus der Dunkelheit. Die Katzengöttin trug die weiße Baumwollrobe einer ägyptischen Prinzessin. In der Hand hielt sie einen Speer, der so groß war wie sie. Sie schritt durch das Meer aus Katzen, das sich vor ihr teilte und hinter ihr wieder schloss. Sie war größer als die Morrigan, doch sie verneigte sich tief vor ihr. »Nichte, ist die Zeit gekommen?«, schnurrte sie.
»Sie ist gekommen«, erwiderte die Morrigan und verneigte sich ebenfalls. Dann warf sie den Umhang zurück, sodass der große Bogen, den sie auf dem Rücken festgezurrt hatte, zum Vorschein kam. Sie löste ihn und holte einen Pfeil aus dem Köcher an ihrer Hüfte. Dann drehten sich die beiden Älteren gleichzeitig um, schritten auf die undurchdringlich erscheinende Hecke zu und sprangen hinein.
Die Katzen und Vögel folgten.
»Es geht los«, rief Senuhet begeistert. Er holte seine Waffen – zwei gebogene ägyptische Bronzeschwerter – und stieg aus dem Wagen.
Oder es endet, dachte Dee, doch er ließ sich seine Angst nicht anmerken.
FREITAG, 1. Juni
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
J osh stand mit seiner Schwester am Waldrand und beobachtete drei winzige geflügelte Wesen, die verdächtig nach Drachen aussahen und tanzend durch das erste Licht des Morgengrauens schwebten. Josh blickte kurz zu Sophie hinüber und schaute rasch wieder weg.
»Ich möchte nicht, dass du das tust«, sagte er.
Sophie legte ihm die Hand auf den Arm. »Warum nicht?«
Sie stellte sich vor ihn hin und zwang ihn, sie anzusehen.
Wenn sie über seine linke Schulter schaute, sah sie Flamel, Scatty und Hekate vor dem Eingang zu dem unerklärlichen Baumhaus stehen und sie beobachten. Rings herum bereiteten sich Scharen von Torc Allta, in Menschen- wie in Werebergestalt, auf den bevorstehenden Kampf vor. Die Eber trugen lederne Panzer über Rücken und Keulen und die Torc Allta in Menschengestalt waren mit Bronzespeeren und Schwertern bewaffnet. Riesige Schwärme von Federnattern flogen übers Gebüsch und im hohen Gras krochen und hüpften Tausende von undefinierbaren kleinen Geschöpfen.
Sophie schaute ihrem Bruder in die Augen und sah ihr eigenes Spiegelbild darin. Erschrocken stellte sie fest, dass zurückgehaltene Tränen in seinen Augen glänzten. Sie wollte ihn in den Arm nehmen, doch er ergriff ihre Hand und drückte sie.
»Ich will nicht, dass dir etwas passiert«, sagte er.
Sophie nickte nur, da sie nicht sicher war, ob ihre Stimme ihr gehorchen würde. Ihr ging es, was ihren Bruder betraf, doch genauso.
Drei der riesigen pterosaurierähnlichen Federnattern flogen über sie hinweg. Der Luftstrom wirbelte Staubwolken auf. Weder Sophie noch Josh schauten auf.
»Nicholas hat gesagt, es bestehe ein gewisses Risiko«, fuhr Josh fort. »Hekate dagegen sagte sogar, es sei gefährlich, wenn nicht sogar tödlich. Ich will nicht, dass du diese Erweckungszeremonie über dich ergehen lässt. Ich will nicht, dass etwas schiefgeht.«
»Wir müssen es tun. Nicholas hat gesagt -«
»Ich weiß nicht, ob man ihm hundertprozentig trauen kann«, unterbrach sie Josh. »Ich habe so ein Gefühl… als führe er selbst etwas im Schilde. Er ist einfach zu erpicht darauf, dass Hekate unsere Kräfte weckt, trotz der
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