Nicholas Flame Bd. 1 Der Unsterbliche Alchemyst
durchschritten hatte, waren sie bereits kniehoch, dann hüfthoch, und plötzlich war der gesamte Flur mit mannshohem, messerscharfem Gras bewachsen. Die Halme schwankten und berührten sich dabei, und es klang fast, als flüsterten sie miteinander.
Nicholas Flamel ließ es zu, dass etwas von seinem wachsenden Zorn in seine Aura strömte. Er ballte die rechte Hand zur Faust und spreizte die Finger dann schnell wieder ab. Sofort war die Luft von einem intensiven Minzegeruch erfüllt. Das Gras direkt vor ihm legte sich flach, als sei ein Sturm darübergefegt, und der Alchemyst sah gerade noch, wie Hekate einen Raum betrat, der vom Rest des Hauses etwas abgesetzt war. Wenn er nur einen Moment länger gezögert hätte, wäre er an der offenen Tür vorbeigelaufen. »Jetzt ist aber Schluss mit den Spielchen!«, schnaubte er, als er eintrat.
Hekate drehte sich zu ihm um. Sie war in der kurzen Zeit, in der sie über den Flur gelaufen war, gealtert und sah jetzt schon aus wie ungefähr fünfzehn. Sie hatte das Gesicht zu einer Grimasse verzogen und die gelben Augen blitzten voller Zorn. »Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden!« Sie hob drohend die Hand. »Du weißt, was ich mit dir machen kann.«
»Du würdest es nicht wagen«, erwiderte Flamel in einer Ruhe, die er nicht in sich spürte.
»Und warum nicht?«, fragte Hekate überrascht. Sie war es nicht gewohnt, dass man ihr widersprach.
»Weil ich der Hüter des Buches bin.«
»Das du nicht mehr hast…«
»Ich bin der Hüter, der in den Prophezeiungen Abrahams erwähnt ist, der vorletzte Hüter. Und die Zwillinge sind ebenfalls im Buch erwähnt. Du sagst, du kanntest Abraham – dann weißt du auch, wie zutreffend seine Vorhersagen waren.«
»Er hat sich oft getäuscht«, murmelte Hekate.
»Als Hüter des Buches bitte ich dich um etwas, das, wie ich glaube, nicht nur das Überleben des Älteren Geschlechts sichern kann, sondern auch das der Humani. Ich möchte, dass du die schlafenden magischen Kräfte der Zwillinge weckst.«
»Es könnte sie umbringen«, sagte die Göttin noch einmal.
»Die Möglichkeit besteht«, gab Flamel zu und spürte, wie sich in seinem Magen ein Eisklotz bildete, »aber wenn du uns nicht hilfst, sterben sie mit Sicherheit.«
Hekate drehte sich um und ging zum Fenster. Auf dem abschüssigen Rasen demonstrierte Scathach für die Zwillinge ein paar Bewegungsabläufe, die die Geschwister fließend nachmachten.
Flamel trat neben Hekate. »Was ist das für eine Welt, in der wir leben«, bemerkte er seufzend, »wenn alles – möglicherweise sogar das Fortbestehen der menschlichen Rasse – auf den Schultern von zwei Teenagern liegt.«
»Du weißt, warum die Humani triumphierten und das Ältere Geschlecht schließlich vertrieben wurde?«, fragte Hekate unvermittelt.
»Wegen des Eisens, oder?«
»Ja, wegen des Eisens. Wir haben den Untergang von Danu Talis überlebt, die Sintflut und die Eiszeit. Und dann begann vor etwa dreitausend Jahren ein einzelner Mensch, der mit Bronze gearbeitet hatte, mit dem neuen Metall zu experimentieren. Es war nur einer – und doch schaffte er es, eine gesamte hochstehende Lebensform auszulöschen. Große Veränderungen gehen immer auf das Handeln Einzelner zurück.« Hekate schwieg und beobachtete die Zwillinge, wie sie neben Scathach Armstöße und Fußtritte übten. »Silber und Gold, die seltensten Aurafarben überhaupt«, murmelte sie schließlich, und einen Herzschlag lang leuchteten die Auren der Zwillinge auf. »Wenn ich es tue und es bringt sie um, wirst du damit leben können?«
»Ich bin alt, so alt«, sagte Nicholas leise. »Kannst du dir vorstellen, wie viele Freunde ich im Lauf der Jahrhunderte verloren habe?«
»Und – hast du es als Verlust empfunden?« In Hekates Ton lag eine Spur echter Neugier.
»Bei jedem Einzelnen.«
»Empfindest du es immer noch so?«
»Ja. Jeden Tag.«
Die Göttin legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Dann bist du immer noch ein Mensch, Nicholas Flamel. An dem Tag, an dem du aufhörst, Mitgefühl zu empfinden, wirst du wie Dee und seinesgleichen.«
Sie schaute wieder hinaus auf den Garten und beobachtete die Zwillinge. Die versuchten beide – und beide vergeblich -, Scathach mit Armstößen oder Tritten zu treffen. Die Kriegerin duckte sich und wich aus, ohne sich wirklich von der Stelle zu rühren. Aus der Entfernung sahen die drei Gestalten aus wie gewöhnliche Teenager, die eine neue Übung einstudierten, doch Hekate wusste, dass keiner der drei auch
Weitere Kostenlose Bücher