Nicholas Flamel Bd. 3 Die mächtige Zauberin
zwischen den Fingern hatte –, erhaschte sie einen Blick auf einen stämmigen, erstaunlich normal aussehenden Mann. Das dichte, lockige Haar fiel ihm bis auf die Schultern, und er hatte einen kurzen Bart, der zu zwei engen Spiralen gezwirbelt war. Er trug eine ärmellose Weste aus überlappenden Algenblättern und Strängen aus grünem Seetang und in der linken Hand hielt er einen gefährlich spitzen steinernen Dreizack. Erst ganz kurz bevor das Licht erlosch und der Tunnel wieder in Dunkelheit versank, fiel Perenelle auf, dass der alte Mann aus dem Meer keine gewöhnlichen Beine hatte. Aus seinem Oberkörper wuchsen in Taillenhöhe acht Tintenfischarme, die sich über den Korridor ringelten.
Der Gestank nach fauligem Fisch wurde intensiver, etwas bewegte sich ganz in ihrer Nähe, und dann legte sich ein mit Saugnäpfen besetzter Arm eng um Perenelles Knöchel. Ein zweiter wand sich klebrig und schleimig um ihre Wade.
»Bleib noch ein Weilchen«, gurgelte Nereus. Ein weiterer Arm legte sich um Perenelles Knie. Die Saugnäpfe drückten sich tief in ihre Haut. Sein Lachen klang, als ob jemand einen nassen Schwamm auswringen würde. »Ich bestehe darauf.«
K APITEL S ECHSUNDDREISSIG
J osh saß benommen auf dem Boden, als die Feuerwand in sich zusammenzufallen begann. Der prasselnde Regen verwandelte den Boden in zähen, klebrigen Schlamm. Über ihren Köpfen ging das Donnergrollen weiter. Blitze zuckten und malten alles schlohweiß und ebenholzschwarz.
»Gehen wir«, sagte Palamedes entschieden. Regenwasser lief von seinem Helm. Er sah Sophie und Josh, Nicholas und Shakespeare an. Sie waren alle nass bis auf die Haut und den Zwillingen klebte das Haar am Kopf. »Es ist eine Zeit zu kämpfen und eine Zeit zu fliehen. Ein guter Soldat weiß immer, wann die Zeit für das eine oder das andere ist. Wir können hierbleiben und gegen Dee und Cernunnos kämpfen. Aber dann wird keiner von uns überleben. Außer euch vielleicht«, sagte er, an die Zwillinge gewandt. Der Schein des Feuers zuckte bernsteinfarben über seine dunkle Haut und die Rüstung. »Ich bin mir allerdings nicht sicher, wie eure Lebensqualität im Dienst der Dunklen Älteren beschaffen wäre. Und auch nicht, wie lange ihr überleben würdet, sobald sie mit euch fertig sind.«
Dichter, giftiger Rauch wirbelte um sie herum und der bittersüßliche Gestank trieb sie zur Blechhütte zurück.
»Will, nimm die Gabriel-Hunde – «
»Ich laufe nicht weg«, sagte der Dichter wie aus der Pistole geschossen.
»Ich habe auch nicht gesagt, dass du das sollst«, blaffte Palamedes. »Ich möchte, dass ihr euch neu formiert und nicht Teile unserer Streitkräfte unnötig geopfert werden.«
» Unserer Streitkräfte?«, fragte Flamel. »Du wirst mir doch nicht sagen wollen, dass der sarazenische Ritter sich endlich für eine Seite entschieden hat?«
»Vorübergehend, nur vorübergehend.« Palamedes wandte sich wieder an Shakespeare. »Will, du bringst die Gabriel-Hunde über den Tunnel unter der Hütte hier raus. – Gabriel!«, rief er. Der größte der Hundemenschen kam herübergelaufen. Die blauen Tattoos auf seinen Wangen waren voller Dreck und Blut und sein graubraunes Haar stand in alle Richtungen ab. »Beschütze deinen Herrn. Führe ihn aus London hinaus und bring ihn zum Großen Steinkreis. Dort wartest du auf mich.«
Shakespeare wollte protestieren, schloss den Mund aber wieder, als Palamedes ihn finster anblickte.
Gabriel nickte. »Wird gemacht. Wie lange sollen wir am Steinkreis warten?«
»Wenn ich bis morgen bei Sonnenuntergang nicht da bin, bringst du Will in eines der Schattenreiche in der Nähe. Avalon oder Lyonesse vielleicht. Dort solltet ihr sicher sein.«
Gabriel ignorierte Flamel und lenkte den Blick seiner blutunterlaufenen Augen auf die Zwillinge. »Und was ist mit den zwei, die eins sind?«
Josh und Sophie warteten schweigend auf Palamedes’ Antwort.
Er holte tief Luft. »Ich bringe sie zurück nach London.« Dann sah er Flamel an. »Wir bringen sie zum König.«
Die Reißzähne des Hundemenschen blitzten auf, als er lächelte. »Vielleicht wären sie bei Cernunnos besser aufgehoben.«
Sophie und Josh saßen auf der Rückbank des typischen Londoner Taxis und beobachteten Flamel, Shakespeare und Palamedes. Die drei hatten sich um ein glühendes Fass geschart, in dem Holzklötze brannten und Reifenteile schwelten. Die Regentropfen, die prasselnd ins Feuer fielen, ließen Wasserdampf aufsteigen, und der dicke weiße Rauch von dem
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