Nicholas Flamel Bd. 3 Die mächtige Zauberin
»Und jetzt geh.« Er hob vorsichtig das linke Bein. Eine schwarze Viper ringelte sich von seinem Knöchel. »Wie lang bleibt das so?«, erkundigte er sich.
»Lange genug.« Shakespeare lächelte. Er strich sich ein paar feuchte Haarsträhnen aus den Augen und winkte dann den Zwillingen im Wagen zu. »Wir trennen uns nur, um wieder zusammenzukommen.«
»Das ist aber nicht von dir«, sagte Palamedes rasch.
»Ich weiß, aber ich wünschte, ich hätte es geschrieben.« Dann schlüpfte William Shakespeare mit seinen Hunden unter die Hütte und verschwand. Gabriel wartete, bis alle anderen weg waren.
»Pass auf ihn auf«, rief Palamedes.
»Ich werde ihn mit meinem Leben beschützen«, erwiderte Gabriel in seinem weichen walisischen Akzent. »Aber sag …« Er wies mit dem Kinn auf die sich windende Masse im Schlamm. »Diese … Dinger …?« Er ließ die Frage unvollendet.
Palamedes’ Lächeln war grausam. »Ein kleines Geschenk für die Wilde Jagd.«
Gabriel nickte, beugte sich vornüber und nahm seine Hundegestalt an. Erst danach kroch er unter die Hütte und verschwand ebenfalls.
Und dann erloschen mit einem Fauchen und Zischen die letzten Flammen im Burggraben.
»Gehen wir«, sagte Flamel. Er bahnte sich vorsichtig einen Weg durch die Kreaturen, die Shakespeare herbeigezaubert hatte. »Ich wusste nicht, dass er das kann.«
»Er hat sie allein aus seiner Fantasie erschaffen«, betonte Palamedes. Der Ritter hielt die hintere Wagentür auf und schob den Alchemysten ins Taxi. »Schnallt euch an«, riet er. Seine schwarze Rüstung war von einer Sekunde auf die andere verschwunden. »Es wird ein bisschen holpern.«
Der sintflutartige Regen hörte so schnell auf, wie er angefangen hatte, und dann sprangen die Wölfe der Wilden Jagd durch den grauen Qualm.
Einen Augenblick später überquerte Cernunnos den Graben. Rauchfahnen wirbelten um sein Geweih. Er warf den Kopf zurück und sein triumphierendes Lachen klang wie Gebell. »Und wohin willst du?«, fragte er und kam auf den Wagen zu. »Dem Gehörnten Gott entkommt keiner.«
K APITEL S IEBENUNDDREISSIG
P erenelle hielt sich mit einer Hand an der Leitersprosse fest, zog mit der anderen den Speer aus dem Gürtel und stieß ihn in einen der Tintenfischarme, die ihr Bein umklammerten. Das Metall hatte die schleimige Haut noch kaum berührt, da wurde der Arm schon mit einem Ruck weggezogen. Zurück blieben die Abdrücke von ein paar Saugnäpfen auf Perenelles Haut. Bevor sie noch einmal zustechen konnte, verschwanden auch die anderen beiden Arme in dem dunklen Tunnel.
»Zauberin, das war ausgesprochen unhöflich. Du hättest mich verletzen können. Ein bisschen tiefer und du hättest mir ein Bein abgeschnitten.«
»So habe ich mir das vorgestellt«, murmelte Perenelle. Sie steckte den Speer wieder in den provisorischen Gürtel und stieg ein Stück höher hinauf.
»Seit Jahrhunderten habe ich kein Bein mehr verloren. Es dauert immer so lange, bis sie nachgewachsen sind«, fügte der Gott verdrossen hinzu. Er sprach jetzt griechisch mit einem grässlichen Akzent.
Perenelle ignorierte ihn und stieg noch ein Stück hinauf, näher ans Licht. Sie fragte sich, ob Nereus überhaupt durch den engen Schaft passen würde. Sein erbärmlicher Gestank hüllte sie ein und ließ ihre Augen tränen. Ihr Magen rebellierte und sie musste hart schlucken. Sie presste sich an die Schachtwand und sah nach unten. Nereus stand am Fuß der Leiter. Im Licht, das von oben hereinfiel, konnte sie gerade eben seinen Kopf und die Schultern erkennen, alles andere war gnädigerweise im Dunkel verborgen.
Er schwenkte seinen Dreizack. »Sieht so aus, als würdest du in der Falle sitzen, Zauberin. Du kannst nicht klettern und mich gleichzeitig mit deinem Zahnstocher pieksen. Und du bist noch nicht außerhalb meiner Reichweite …«
Perenelle erhaschte einen Blick auf zuckende Tintenfischarme am Fuß des Schachts. Zuerst war es nur einer, der auf sie zuschlängelte, dann kamen zwei, dann vier. Sie ringelten sich über die tropfnassen Sprossen wie tastende Finger. »Weißt du überhaupt, wer ich bin?«, fragte sie auf Englisch und wiederholte die Frage dann auf Altgriechisch.
Nereus zuckte mit den Schultern, was ein Zittern durch all seine Beine schickte. »Ich gebe zu, ich weiß es nicht.«
»Warum bist du dann hier?« Perenelle kletterte wieder eine Sprosse höher. Sie fand, dass er wie ein gelangweilter Akademiker klang.
»Ich begleiche eine uralte Schuld«, blubberte er. »Einer der Großen
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