Nicholas Flamel Bd. 3 Die mächtige Zauberin
plötzliche Stille hinein. »Ich bin mir nicht sicher, ob das menschliche Gehirn dazu in der Lage ist, das Wissen von zehn Millionen Jahren zu fassen und zu speichern. Seine Majestät bringt oft etwas durcheinander.«
Sophie griff nach der Hand ihres Bruders und drückte sie. Als Josh sie anschaute, presste sie die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf, damit er nichts sagte. Sie brauchte Zeit, um die Erinnerungen und Gedanken der Hexe durchzugehen. Ganz am Rand ihres Bewusstseins lauerte etwas, etwas Dunkles, Hässliches, etwas, das mit Gilgamesch und mit Zwillingen zu tun hatte.
Sophie sah ihren Bruder kaum merklich nicken, dann wandte er sich wieder Gilgamesch zu. »Du … Du bist also zehntausend Jahre alt?«, fragte er vorsichtig.
»Die meisten Leute lachen, wenn sie das sagen«, erwiderte Gilgamesch. »Du nicht. Warum nicht?«
Josh grinste. »In den letzten beiden Tagen bin ich von einer unter der Erde begrabenen Legende erweckt worden, ich habe einen Drachen geritten und gegen den Gehörnten Gott gekämpft. Ich war in einem Schattenreich und habe einen Baum gesehen, der so groß war wie die Erde. Ich habe Männer gesehen, die sich in Wölfe und Hunde verwandelt haben, eine Frau mit dem Kopf einer Katze … Aber vielleicht war es auch eine Katze mit dem Körper einer Frau. Deshalb ist, wenn ich ehrlich bin, ein zehntausend Jahre alter Mann nichts Besonderes. Und du bist wahrscheinlich von all den Leuten, die wir getroffen haben, noch derjenige, der am normalsten aussieht. Was keine Beleidigung sein soll«, fügte er rasch hinzu.
»Schon gut. Vielleicht bin ich zehntausend und noch mehr Jahre alt.« Als Gilgamesch weitersprach, klang seine Stimme plötzlich müde. »Vielleicht bin ich aber auch nur ein verwirrter alter Dummkopf. Das haben schon viele zu mir gesagt. Aber die sind alle tot.« Er lächelte, drehte sich um und klopfte an die Trennscheibe. »Wohin fahren wir, Pally?«
Der sarazenische Ritter war eine dunkle Gestalt im Dämmerlicht. »Nun, zuerst wollten wir zu dir …«
Gilgamesch lachte vergnügt.
»… und dann will ich diese Leute hier wieder von der Insel haben. Ich bringe sie zum Steinkreis.«
»Steinkreis?« Gilgamesch runzelte die Stirn. »Kenne ich den?«
»Stonehenge. Und du solltest ihn kennen, du hast mitgeholfen, ihn zu bauen.«
Gilgameschs strahlende Augen wurden trübe. Er blinzelte in die dunkle Ecke, in der Flamel saß. »Tatsächlich? Ich erinnere mich nicht.«
»Es ist lange her«, murmelte Flamel. »Die ersten Steine hast du, glaube ich, vor über viertausend Jahren aufgestellt.«
»Oh nein, der Kreis ist älter«, sagte Gilgamesch plötzlich und strahlte wieder. »Ich habe mindestens tausend Jahre früher damit angefangen. Und der Platz war schon damals uralt …« Gedankenverloren blickte er von Sophie zu Josh. Dann drehte er sich wieder zu Palamedes um. »Und warum fahren wir da hin?«
»Wir wollen eine der alten Kraftlinien aktivieren, damit die drei hier das Land verlassen können.«
Gilgamesch nickte. »Kraftlinien. Ja, davon gibt’s jede Menge in Salisbury. War einer der Gründe, weshalb ich die Tore dort errichtet habe. Und warum wollen wir sie außer Landes bringen?«
»Weil die beiden hier Sonne und Mond sind«, erklärte Flamel, »mit Auren aus reinem Silber und Gold. Und sie werden von den Dunklen Älteren gejagt, die uns heute Nacht einen Archon geschickt haben. Vor zwei Tagen ist Nidhogg durch Paris getobt. Du weißt, was das bedeutet.«
»Sie haben ihre Vorsicht aufgegeben. Es bedeutet, dass das Ende naht. Und zwar bald.« Etwas im Ton des Königs hatte sich verändert. Er war kalt und geschäftsmäßig geworden.
» Wieder naht«, sagte Nicholas Flamel. Er beugte sich vor, und bernsteinfarbenes Licht fiel auf sein Gesicht, das die Farbe von altem Pergament annahm. Die Schatten hoben die Falten auf seiner Stirn hervor und betonten die Tränensäcke unter den Augen. »Du könntest helfen, es aufzuhalten.«
»Der Alchemyst!« Gilgamesch riss erschrocken die Augen auf. »Palamedes! Was hast du getan?«, rief er, und seine Stimme überschlug sich fast. »Du hast mich betrogen!«
Und plötzlich hatte der alte Mann ein Messer mit langer schwarzer Klinge in der Hand. Es blitzte im Licht einer Straßenlaterne, als er es auf Flamels Brust richtete.
K APITEL V IERUNDVIERZIG
S chmutzig und zerzaust schlich Dr. John Dee in seinem Anzug voller Brandlöcher die menschenleeren Straßen entlang. Er hielt sich im Dunkeln, als Polizei, Feuerwehr und
Weitere Kostenlose Bücher