Nicholas Flamel Bd. 3 Die mächtige Zauberin
Kräutertee und beobachtete, wie am östlichen Horizont die ersten Vorboten der Morgenröte aufleuchteten.
Frisch geduscht, die Haare straff nach hinten gekämmt, glich er in seinem maßgeschneiderten grauen Anzug mit Weste in nichts dem zerlumpten Kerl, der vor nicht einmal einer Stunde auf dem Parkplatz am Wachhäuschen gestanden hatte. Der Magier hatte darauf geachtet, dass keine der Kameras ihn erfasst hatte, und ein einfacher Hypnosezauber hatte die Aufmerksamkeit des Wachmanns auf die Quadrate des Kreuzworträtsels in der Zeitung gelenkt. Selbst wenn der Mann es gewollt hätte, wäre er nicht imstande gewesen aufzuschauen. Dee hatte sich an die dunklen Bereiche gehalten, als er über den Parkplatz zu dem privaten Aufzug gegangen war. Sein persönlicher Zugangscode – 13071527 – hatte ihn direkt hinaufgebracht zu den Penthousewohnungen.
Dees Firma, die Enoch Enterprises, belegte ein ganzes Stockwerk des Canary Wharf Tower, des höchsten Gebäudes in Großbritannien mitten im Herzen des Londoner Finanzbezirks. Er besaß auf der ganzen Welt verstreut ähnliche Büros, und obwohl er sie selten aufsuchte, unterhielt er in allen eine private Luxuswohnung. In jeder gab es einen großen, eingebauten Safe, der sich nur über einen persönlichen Fingerabdruck- und Augenscan öffnen ließ. Der Safe enthielt Kleidungsstücke, Bargeld in verschiedenen Währungen, Kreditkarten und eine Auswahl von Pässen, die auf unterschiedliche Namen ausgestellt waren. Es war schon vorgekommen, dass er ohne Kleidung und Geld dagestanden hatte, und er hatte sich geschworen, dass ihm das nie mehr passieren würde.
Erst als er unter der heißen Dusche gestanden hatte und das Wasser schmutzig und schwarz an seinem Körper heruntergelaufen war, hatte er sich einen Augenblick Zeit genommen, um über seine Möglichkeiten nachzudenken. Er musste zugeben, dass sie mehr als begrenzt waren.
Er konnte Flamel finden, ihn töten, sich die fehlenden Seiten schnappen und die Zwillinge in Gewahrsam nehmen.
Oder er konnte fliehen.
Er konnte mit einem falschen Pass das Land verlassen, sich an irgendeinem abgelegenen Ort verstecken und den Rest seines Lebens in Angst verbringen, ohne seine Aura nutzen zu können, weil die seinen Aufenthaltsort verraten konnte. Er würde sich ständig nach allen Seiten umschauen, immer in der Furcht, einer seiner Meister könnte kommen und ihn ergreifen. In dem Moment, in dem sie seine bloße Haut berührten, würde der Unsterblichkeitszauber aufgehoben, und er würde altern und sterben. Vielleicht würden sie aber auch wahr machen, was sie angedroht hatten: dass sie den Zauber nur so lange lösen wollten, bis seine fast fünfhundert Lebensjahre ihn eingeholt und seinen Körper weggerafft hatten … um ihn dann im letzten Augenblick als uralten Mann wieder unsterblich werden zu lassen. Dee schauderte. Es wäre der lebendige Tod.
Er trat aus der Dusche und wischte mit der Hand über den beschlagenen Spiegel. Bildete er es sich nur ein oder sah er neue Falten auf seiner Stirn und um die Augen herum? Er war jahrhundertelang immerzu gerannt – vor Gefahren davongerannt oder dem Alchemysten und den anderen seiner Art hinterhergejagt. Er war herumgeschlichen und hatte sich versteckt, sich ängstlich vor seinen Meistern geduckt und ohne zu fragen getan, was sie verlangt hatten. Kondenswasser lief über den Spiegel, und es sah aus, als weine er. Aber der Magier weinte nicht mehr. Das letzte Mal, als er Tränen vergossen hatte, war sein kleiner Sohn Nicholas gestorben. Das war im Jahr 1597 gewesen.
Er würde nicht mehr davonlaufen.
Sein Studium der Magie und Zauberei hatte Dee gelehrt, dass die Welt voll grenzenloser Möglichkeiten war, und die Jahre, in denen er bei Flamel Alchemie studiert hatte, hatten ihm gezeigt, dass nichts – nicht einmal die Materie – beständig und unveränderbar war. Alles ließ sich manipulieren. Er hatte sein langes Leben einem einzigen Ziel gewidmet: die Welt zu verändern, sie besser zu machen, indem er sie den Dunklen Älteren zurückgab. Oberflächlich gesehen war es eine unmöglich zu erfüllende Aufgabe, alles sprach dagegen, aber nach etlichen Jahrhunderten war es ihm nun fast gelungen, und die Rückkehr des Älteren Geschlechts auf diese Erde stand kurz bevor.
Er befand sich in einer verzweifelten und gefährlichen Situation, aber er konnte es schaffen. Sein Schlüssel zum Überleben lag in der erfolgreichen Suche nach Flamel.
Dee hatte sich rasch angezogen, wobei er das Gefühl
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