Nicholas Flamel Bd. 3 Die mächtige Zauberin
und die Welt jetzt gestochen scharf und bunt war, ahnte er, wozu er fähig war – was einmal aus ihm werden könnte. Er hatte Nidhoggs Gedanken und Clarents dunkle Schwingungen erfahren, hatte flüchtige Blicke auf Welten werfen dürfen, die jenseits seiner Vorstellungskraft lagen. Er wusste – ohne den geringsten Zweifel –, dass er zur nächsten Stufe weitergehen und in der Elementemagie ausgebildet werden wollte. Er war sich nur nicht sicher, ob er auch vom Alchemysten ausgebildet werden wollte. Irgendetwas stimmte nicht mit Nicholas Flamel. Zu erfahren, dass es vor ihnen schon andere Zwillinge gegeben hatte, war irritierend und schockierend gewesen, und Josh hatte Fragen – Hunderte von Fragen. Aber ihm war klar, dass Flamel ihm keine ehrlichen Antworten geben würde. Er wusste nicht mehr, wem er trauen konnte – außer Sophie –, und das Wissen, dass sie auf ihre Kräfte lieber verzichtet hätte, machte ihm zu schaffen. Obwohl er wegen seiner geschärften Sinne starke Kopfschmerzen und Sodbrennen hatte, obwohl ihm übel war und sein Hals kratzte und die Augen tränten, wollte er die Erweckung nicht rückgängig machen. Im Gegensatz zu seiner Schwester war er froh, dass sie am Donnerstag nicht freigenommen hatten.
Josh legte die Hände auf die Brust. Unter seinem T-Shirt raschelten die beiden Seiten des Codex, die er aus dem Buch herausgerissen hatte. Ihm kam ein Gedanke. »Wenn wir ins Exploratorium gegangen wären, hätte Dee Nicholas und Perenelle gekidnappt und hätte jetzt den gesamten Codex. Wahrscheinlich hätte er die dunklen Älteren schon aus ihren Schatten-reichen zurückgeholt. Vielleicht gäbe es unsere Welt schon gar nicht mehr. Es gibt kein ›normal‹, zu dem wir zurückkehren können, Sophie«, fügte er in einem ehrfurchtsvollen Flüsterton hinzu.
Danach standen die Zwillinge schweigend da. Allein die Vorstellung war Furcht einflößend und beinahe unfassbar: dass es mit der Welt, die sie kannten, ein Ende haben könnte. Noch am Mittwoch hätten sie darüber gelacht. Aber jetzt? Jetzt wussten sie beide, dass es hätte passieren können. Und was noch schlimmer war: Sie wussten, dass es immer noch passieren konnte.
»Zumindest behauptet Nicholas das.« Es gelang Josh nicht, die Bitterkeit aus seinem Ton herauszuhalten.
»Und du glaubst ihm?«, fragte Sophie neugierig. »Ich habe gedacht, du traust ihm nicht.«
»Tu ich auch nicht«, erwiderte Josh bestimmt. »Du hast gehört, was Palamedes über ihn gesagt hat. Wegen Flamel, wegen dem, was er getan und nicht getan hat, sind Hunderttausende Menschen gestorben.«
»Nicholas hat sie nicht umgebracht«, erinnerte Sophie ihn und fügte sarkastisch hinzu: »Das war dein Freund John Dee.«
Josh wandte sich wieder der Blechhütte zu. Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Schließlich stimmte es. Dee selbst hatte zugegeben, dass er bei dem Versuch, die Flamels zu stoppen, Feuersbrünste und die Pest in die Welt gebracht hatte. »Wir wissen nur, dass Flamel uns von Anfang an belogen hat. Was ist zum Beispiel mit den anderen Zwillingspaaren? Palamedes hat gesagt, Nicholas und Perenelle hätten über die Jahrhunderte Zwillinge gesammelt .« Allein das Wort gesammelt auszusprechen, bereitete ihm Unbehagen. »Was ist aus ihnen geworden?«
Ein eisiger Windhauch fuhr über den Schrottplatz und Sophie fröstelte, allerdings nicht wegen der kalten Luft. Den Blick fest auf die Blechhütte und nicht auf ihren Bruder gerichtet, begann sie, ganz langsam zu sprechen; jedes Wort war sorgfältig überlegt. Wut stieg in ihr auf. »Da die Flamels bis vor ein paar Tagen immer noch nach Zwillingen gesucht haben, heißt das, alle anderen sind … was?« Als sie sich zu ihrem Bruder umdrehte, nickte der schon.
»Wir müssen wissen, was mit den anderen Zwillingen geschehen ist«, sagte er bestimmt und sprach damit genau das aus, was sie dachte. »Ich frage es ungern, aber weiß es die Hexe?«, begann er vorsichtig. »Ich meine … Weißt du, ob die Hexe es weiß?«
Sophie schwieg einen Augenblick, dann schüttelte sie den Kopf. »Von der modernen Welt scheint die Hexe nicht viel zu wissen. Sie weiß über die Erstgewesenen Bescheid, über die nächste Generation und einige der ältesten Unsterblichen der menschlichen Art. Von den Flamels zum Beispiel hatte sie gehört, aber sie hat Nicholas erst kennengelernt, als Scatty ihn ihr zusammen mit uns vorgestellt hat. Ich weiß nur, dass sie jahrelang in Ojai gewohnt hat, ohne Telefon, ohne Fernsehen oder
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