Nicholas Flamel Bd. 3 Die mächtige Zauberin
Hand auf ihren knurrenden Magen. Sie hatte Hunger. Die Zauberin brauchte normalerweise kaum noch etwas zu essen, aber jetzt merkte sie, dass sie eine Menge Energie verbrannt hatte und Kalorien benötigte, um den Speicher wieder aufzufüllen. Wenn Nicholas da wäre, wäre das kein Problem. Während ihrer Reisen hatte er sein alchemystisches Wissen oft dazu benutzt, Steine in Brot zu verwandeln und Wasser in Suppe. Sie kannte ein paar Füllhorn-Formeln, die sie in Griechenland gelernt hatte und mit denen sie sich genügend zu essen herbeizaubern konnte, aber dazu musste sie ihre Aura einsetzen, und deren unverwechselbare Struktur würde die Sphinx anlocken.
Menschen war sie auf der Insel noch nicht begegnet. Sie bezweifelte, dass einer auch nur eine einzige Nacht auf Alcatraz überleben könnte, ohne verrückt zu werden oder körperlich Schaden zu nehmen. Sie erinnerte sich an einen Zeitungsartikel, den sie vor einiger Zeit gelesen hatte – etwa sechs Monate war das jetzt her. Dort hatte gestanden, dass ein Privatunternehmen die Insel gekauft hätte und sie jetzt nicht mehr für die Öffentlichkeit zugänglich sei. Das ehemalige staatliche Naturschutzgebiet sollte in ein Multimedia-Museum der modernen Geschichte umgewandelt werden. Seit sie wusste, dass Dee der neue Besitzer war, hatte sie diesbezüglich ihre Zweifel. Noch schlimmer war jedoch, dass sie, wenn sich seit sechs Monaten keine Menschen mehr auf der Insel aufgehalten hatten, höchstwahrscheinlich nichts Essbares mehr finden würde. Es wäre das erste Mal in ihrem langen Leben, dass sie hungern müsste.
Der Magier hatte eine ganze Armee in den Gefängniszellen zusammengezogen, Kreaturen aus allen Nationen. Es waren ausnahmslos Ungeheuer, die den Menschen seit Jahrtausenden Albträume beschert hatten. Und wenn es eine Armee gab, bedeutete dies, dass ein Krieg bevorstand. Perenelle lächelte bitter. Dann sah es also so aus: Sie war der einzige Mensch auf Alcatraz – teilte die Insel mit einem bunt gemischten Sortiment sagenumwobener Bestien, Albtraum-Ungeheuer, Vampire und Wergeschöpfe. Im Ozean waren die Nereiden, tief unter der Insel war in einer Zelle eine rachsüchtige Krähengöttin eingeschlossen, und ein sehr, sehr mächtiger Älterer griff sie von irgendwo auf dem Festland aus an.
Perenelles Lächeln erlosch. Sie war sicher, dass es irgendwann in der Vergangenheit schon Situationen gegeben hatte, die schlimmer waren als die jetzige, doch im Augenblick fiel ihr keine ein. Und früher hatte sie immer Nicholas an ihrer Seite gehabt. Zusammen waren sie unschlagbar gewesen.
Von unten kam ein leiser Lufthauch und fuhr durch ihr Haar. Dann wirbelten Staubkörnchen durch die Luft und eine Gestalt flackerte im Dämmerlicht auf. Perenelle wich rasch zurück in die Sonne, wo ihre Kräfte am größten waren. Dass es die Sphinx war, glaubte sie nicht; deren unverwechselbarer moschusartiger Geruch nach Löwe, Vogel und Schlange hätte sie gewarnt.
Im Türrahmen stand plötzlich eine Gestalt. Als das Licht auf sie fiel, gewann sie an Tiefe und Festigkeit, und man sah, dass sie sich aus Rostpartikeln und glänzenden Spinnwebfetzen zusammensetzte. Es war der gute Geist der Insel, Juan Manuel de Ayala, Entdecker und Hüter von Alcatraz. Die Erscheinung verneigte sich tief. »Ich freue mich, dich heil und gesund zu sehen, Señora«, begrüßte er sie in formellem alten Spanisch.
Perenelle lächelte. »Hast du etwa gedacht, ich würde dir als Geist Gesellschaft leisten?«
Ein halb transparenter de Ayala dachte, in der Luft schwebend, eine Weile ernsthaft über die Frage nach. Dann schüttelte er den Kopf. »Wenn du auf der Insel den Tod gefunden hättest, wärst du nicht mehr hier. Dein Geist hätte sich auf Wanderschaft begeben.«
Perenelle nickte und blickte betrübt vor sich hin. »Ich hätte mich auf die Suche nach Nicholas gemacht.«
Die schönen Zähne, die der Seemann zu Lebzeiten nie gehabt hatte, wurden sichtbar, als er lächelte. »Komm, meine Liebe, komm mit. Ich muss dir etwas zeigen.« Er drehte sich um und schwebte die Treppe hinunter.
Perenelle zögerte. Sie vertraute de Ayala, aber Geister waren nicht die Klügsten und leicht zu täuschen. Dann roch sie ganz schwach und kaum erkennbar Minze – eigentlich war es nur die Ahnung eines Dufts – in der salzigen Luft. Ohne noch eine Sekunde zu zögern, folgte die Zauberin dem Geist ins Dunkel.
K APITEL A CHTZEHN
N icholas Flamel saß vor den beiden identischen LCD-Computerbildschirmen. William
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