Nicholas Flamel Bd. 3 Die mächtige Zauberin
Zelle stehen und schwebte dann zur Seite, damit sie das riesige, kunstvoll gesponnene Netz sehen konnte, das den Türrahmen fast vollständig ausfüllte. Es glitzerte von den im Lufthauch zitternden Tröpfchen irgendeiner Flüssigkeit. Der Minzeduft war hier besonders intensiv.
»Nicholas?«, flüsterte Perenelle verwundert. Es war der unverwechselbare, herrlich vertraute Duft der Aura ihres Mannes … Aber wie kam er hierher? Sie versuchte, in die Zelle hinter dem Netz zu schauen. »Nicholas?«, flüsterte sie noch einmal.
Plötzlich schimmerten die einzelnen Tröpfchen im Netz alle gleichzeitig und flossen ineinander. Das Spinnennetz wurde kurz zu einer reflektierenden Fläche, und es war, als blickte sie in einen großen Spiegel. Der verschwand wieder, es wurde dunkler und das kunstvolle Netz wurde erneut sichtbar. Ein knisternder grüner Faden schlängelte sich über das zarte Gespinst, und sie hörte ganz deutlich Nicholas’ Stimme: »Sie hat immer gesagt, dass ein Stück von ihr darin sei.« Im nächsten Augenblick kam wieder Leben in das Netz und drei erstaunte Gesichter blickten sie im Dämmerlicht an.
»Nicholas!« Perenelles Stimme war nur noch ein Flüstern. Sie hatte zu kämpfen, damit ihre Aura nicht aufloderte. Das war ganz und gar unmöglich – aber so war die ganze Welt, in der sie sich bewegte. Instinktiv wusste sie, dass es sich um eine Form des Distanzsehens handelte, bei der die Flüssigkeit auf dem Spinnennetz zur Übertragung der Bilder genutzt wurde … Aber sie wusste auch, dass ihr Mann dazu eigentlich nicht in der Lage war. Diese spezielle Kunst hatte er noch nie beherrscht. Doch Nicholas überraschte sie immer wieder, selbst nach über sechshundert Jahren Ehe. »Nicholas«, flüsterte sie, »du bist es wirklich!«
»Perenelle! Oh, Perenelle!«
Die Freude, die aus seiner Stimme sprach, nahm ihr den Atem. Die Zauberin blinzelte Tränen zurück und konzentrierte sich dann ganz auf ihren Mann. Sie betrachtete ihn kritisch. Die Falten auf seiner Stirn waren tiefer geworden und sie entdeckte neue Fältchen um Augen und Nase. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und sein Haar war silbrig, aber das spielte alles keine Rolle. Hauptsache, er lebte! Sie spürte, wie sie sich innerlich entspannte. Die Sphinx hatte provozierend behauptet, Nicholas sei verloren. Die Morrigan hatte gesagt, Nidhogg tobe durch Paris. Perenelle hatte sich fast nicht mehr getraut, an Nicholas zu denken und daran, was ihm zugestoßen sein könnte. Doch da war er: älter, gewiss; müde, eindeutig; aber höchst lebendig!
Direkt hinter Nicholas sah sie den Jungen, Josh. Auch er machte einen müden Eindruck. Über seine Stirn zogen sich Schmutzstreifen und er war nicht gekämmt, doch ansonsten schien alles in Ordnung zu sein mit ihm. Von Sophie war keine Spur. Und wo war Scathach? Perenelle verengte die Augen minimal, als sie ihren Blick auf den Mann richtete, der neben Nicholas saß. Er kam ihr irgendwie bekannt vor.
»Du fehlst mir«, sagte Nicholas. Er hob die rechte Hand und spreizte die Finger. Am anderen Ende der Welt ahmte Perenelle unbewusst die Geste nach, wobei sie darauf achtete, dass sie das Spinnennetz nicht berührte. Ihr war klar, dass die Verbindung sonst abbrechen könnte.
»Du bist unverletzt?« Nicholas’ Stimme war nur der leiseste Hauch und das Netz zitterte in der Brise, die durch die offene Tür am anderen Ende des Korridors strich.
»Ich bin unverletzt und es geht mir gut«, antwortete sie.
»Ganz schnell, Perry, wir haben nicht viel Zeit. Wo bist du?«
»Nicht weit von zu Hause weg. Ich bin auf Alcatraz. Und du?«
»Leider etwas weiter weg als du. Ich bin in London.«
»London! Die Morrigan hat mir gesagt, du wärst in Paris.«
Nicholas lächelte. »Das war gestern. Heute sind wir in London, aber nicht mehr lange, wenn es nach mir geht. Kannst du die Insel verlassen?«
»Leider nein.« Sie lächelte traurig. »Die Insel gehört Dee. In den Gefängniskorridoren läuft eine Sphinx frei herum, die Zellen sind voller Ungeheuer und der Ozean wird von den Nereiden bewacht.«
»Gehe kein Risiko ein! Ich komme zu dir«, versprach Nicholas.
Perenelle nickte. Sie zweifelte keine Sekunde daran, dass er es versuchen würde. Ob er es rechtzeitig schaffen würde, war eine andere Sache. »Das weiß ich.« Sie hatten so lange miteinander gelebt und fast das gesamte letzte Jahrhundert vergleichsweise bequem und unerkannt und mit so wenig Kontakt zum Älteren Geschlecht verbracht, dass sie manchmal
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