Nicholas Flamel Bd. 3 Die mächtige Zauberin
strafften die Schultern und sahen sich an. Von Shakespeares Zwillingen hatten sie noch nie etwas gehört.
Lange sagte keiner etwas, dann holte der unsterbliche Dichter tief Luft, stützte sich mit den Händen auf den Tisch, spreizte die langen Finger und sah die Zwillinge eindringlich an. »Damals bin ich dahintergekommen, warum Dee so an mir interessiert war. Irgendwie hatte er gewusst, dass wir Zwillinge bekommen würden, und er dachte, es seien die legendären Zwillinge, die im Codex prophezeit wurden. 1596 wohnte ich in London, nicht mehr zu Hause in Stratford. Dee besuchte meine Frau und erbot sich, den Zwillingen eine Schulbildung zukommen zu lassen. Sie war so naiv und hat zugestimmt, obwohl zu der Zeit bereits hässliche Gerüchte über den Doktor im Umlauf waren. Ein paar Tage später versuchte er, Hamnets Kräfte zu wecken. Die Erweckung hat ihn das Leben gekostet. Mein Sohn war elf Jahre alt.«
Niemand brach das lange Schweigen, das darauf folgte. Das einzige Geräusch war das des Regens, der auf das Metalldach trommelte.
Schließlich sah Shakespeare Flamel mit feuchten Augen an. Tränen liefen ihm über die Wangen. Er ging um den Tisch herum und blieb direkt vor dem Alchemysten stehen. »Ein dummer Junge hat aus Unwissenheit und Einfalt dein Vertrauen missbraucht. Am Ende habe ich dafür mit dem Leben meines Sohnes bezahlt. Nicholas, ich bin nicht dein Feind. Ich hasse Dee auf eine Art, die du nicht annähernd nachvollziehen kannst.« Shakespeare ergriff Flamels Arm und schloss fest die Finger darum. »Ich habe lange auf eine Begegnung mit dir gewartet. Wir beide wissen zusammen mehr über den Magier als sonst jemand in dieser Welt. Ich bin es müde, wegzulaufen und mich zu verstecken. Es wird Zeit, dass wir unser Wissen vereinen und zusammenarbeiten. Es wird Zeit, dass wir Dee und seinen Dunklen Älteren den Krieg erklären. Was sagst du dazu?«
»Eine gute Strategie«, antwortete Josh, bevor Flamel etwas erwidern konnte. Noch während er sprach, merkte er, dass es nicht seine Gedanken waren, die er äußerte. Aus ihm sprach Mars. »Du hast dich dein Leben lang versteckt. Dee erwartet nicht, dass du deine Taktik änderst.«
Palamedes stützte die kräftigen Unterarme auf den Tisch und seufzte. »Der Junge hat recht. Du bist hier in London praktisch gefangen. Das hat der Magier geschickt hingekriegt. Wenn du wegläufst, schnappt die Falle für dich zu.«
»Und wenn wir hierbleiben, schnappt die Falle auch für uns zu«, sagte Josh rasch.
Flamel blickte gequält in die Runde. »Ich weiß nicht …«, sagte er schließlich. »Wenn ich nur mit Perenelle reden könnte. Die wüsste, was das Beste ist.«
Zum ersten Mal, seit sie ihn getroffen hatten, lächelte Shakespeare vergnügt. »Ich glaube, das lässt sich machen.«
K APITEL S IEBZEHN
P erenelle stand im Türrahmen und blickte hinunter ins Dämmerlicht. Die schwere Metalltür, die den Treppenabgang früher fest verschlossen hatte, lag verbeult und verbogen hinter ihr auf dem Boden. Das Gewicht der Spinnen, die aus den unterirdischen Gefängniszellen geströmt waren, hatte sie aus den Angeln gerissen. Seit Areop-Enap sich in ihren Kokon zurückgezogen hatte, waren die überlebenden Spinnentiere verschwunden. Auf Alcatraz waren nur noch die leeren Panzer der vergifteten Tiere und die vertrockneten Körperhüllen toter Insekten zu sehen. Perenelle fragte sich, wer – oder was – die Fliegen wohl geschickt hatte. Zweifellos jemand sehr Mächtiges; jemand, der möglicherweise bereits in diesem Augenblick den nächsten Schritt gegen sie plante.
Perenelle neigte den Kopf zur Seite, strich das lange Haar hinters Ohr, schloss die Augen und lauschte. Ihr Gehör war ausgezeichnet, und sie stellte fest, dass sich nichts bewegte. Dennoch wusste sie, dass die Zellen nicht leer waren. Das Inselgefängnis war voller Blutsauger und Fleischfresser, es saßen dort Vetalas, Minotaur, Windigos und Oni, Trolle und Cluricaune – und, nicht zu vergessen, die mörderische Sphinx. Das Sonnenlicht hatte Perenelles Aura aufgeladen, und sie wusste, dass die schwächeren Kreaturen keine Gefahr mehr für sie darstellten. Die Minotaur und Windigos könnten noch Probleme machen, aber der Sphinx war sie unterlegen, dessen war sie sich voll bewusst. Die Löwin mit den Adlerflügeln ernährte sich von magischer Energie. Sie bräuchte nur eine Weile in ihrer Nähe zu sein, und ihre Aura würde sich erschöpfen, bis Perenelle völlig hilflos wäre.
Perenelle Flamel presste die
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