Nicholas Flamel Bd. 3 Die mächtige Zauberin
winziger Gesichter auf; eines auf jedem Tröpfchen auf dem Netz. Dann flossen die Tropfen wieder zusammen und bildeten erneut eine reflektierende Oberfläche.
»Meine Liebe …«, flüsterte de Ayala drängend, »etwas ist auf dem Weg hierher.«
»Nicholas«, sagte Perenelle rasch, »ich muss gehen.«
»Ich komme sobald als möglich zu dir«, versprach der Alchemyst noch einmal.
»Ich weiß. Aber sei vorsichtig. Ich sehe dir das Alter an.«
»Ich bitte dich um einen letzten Rat, Perry. Mr Shakespeare glaubt, dass wir uns stellen und kämpfen müssen. Aber wir sind im Herzen Londons und eine klägliche Minderheit. Was sollen wir tun?«
»Oh, Nicholas«, antwortete Perenelle leise in dem längst vergessenen bretonischen Dialekt, den sie in ihrer Jugend gesprochen hatte. Eine subtile Veränderung vollzog sich in ihrem Gesicht, es wurde kantiger, härter. Die grünen Augen wirkten plötzlich wie aus Glas, und sie wechselte wieder ins Englische: »Alles hat seine Zeit, das Davonlaufen und das Sich-dem-Feind-Stellen. Ich habe dich oft gebeten, stehen zu bleiben und zu kämpfen, Nicholas. Du besitzt ein halbes Jahrtausend alchemystisches Wissen, das du gegen Dee und seine Dunklen Älteren einsetzen kannst. Aber du hast mir immer gesagt, das ginge nicht. Du wolltest warten, bis du die Zwillinge gefunden hast. Nun, jetzt hast du sie. Und du hast gesagt, sie hätten ungeheure Kräfte. Nutze sie. Schlagt im Herzen von Dees Reich zu, zeigt ihm, dass wir nicht wehrlos sind. Die Zeit ist gekommen, Nicholas, die Zeit, sich zu stellen und zu kämpfen.«
»Und was ist mit dir? Kannst du auf dich aufpassen, bis ich zu dir komme?«
Perenelle wollte gerade nicken, als der schiere Horror durch das Spinnennetz schoss, bereit, ihr mit Zähnen und Klauen das Gesicht zu zerfleischen.
K APITEL Z WANZIG
F lamel, Josh und Shakespeare bekamen noch mit, wie Perenelle zu nicken begann … Dann löste sich das Bild in Pixel auf. Aber zuvor sahen sie alle drei die gekrümmten Krallen aufblitzen. Instinktiv wichen sie von den Bildschirmen zurück.
»Was … Was war da los?«, fragte Josh erschrocken. Der linke Bildschirm war vollkommen schwarz, der rechte dagegen war mit glitzernden roten und grünen Flecken übersät, die sich aus einzelnen Pünktchen zusammensetzten.
Flamels linke Hand schloss sich so fest um das silberne Armband, dass die Knöchel weiß hervortraten. Minzegrünes Feuer tanzte über die Fingerspitzen seiner rechten Hand, als er sie auf den Monitor legte. Das LCD wechselte von einer Regenbogenfarbe zur anderen, dann erschienen zehn schmale, bunte, unregelmäßige Streifen auf der schwarzen Fläche, lange, flackernde senkrechte Striche, die den Blick freigaben auf einen unerträglich leeren Korridor am anderen Ende der Welt. Von Perenelle keine Spur.
»Was war das?«, fragte Josh erneut.
Shakespeare schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.« Dann bog er die Finger der rechten Hand zu einer Klaue und streckte sie Richtung Bildschirm aus. Fünf der schmalen bunten Streifen entsprachen seinen Fingern. »Etwas ist auf Perenelle zugeschossen und wollte ihr das Gesicht zerkratzen. Es muss durch das Netz gekommen sein.« Er klopfte mit einem Fingernagel auf den Bildschirm. »Sieht so aus, als seien wir über die zerrissenen Spinnenfäden immer noch verbunden. Ich kann es noch einmal versuchen.«
»Ist … Ist alles in Ordnung mit ihr?«, fragte Josh voller Sorge. Er sah, dass das silberne Armband zerbrochen war. Das Mittelstück war zu flachen Silbertropfen geschmolzen. »Nicholas?«
Flamel antwortete nicht. Er zitterte, sein ausgemergeltes Gesicht war blutleer, die Lippen waren blau umrandet. Sie bildeten das Wort Perenelle , doch er sprach es nicht laut aus.
Das Bild flackerte … Dann sahen sie Perenelle.
Sie wich zurück, die Hände schützend vor sich ausgestreckt. Ein hässlicher roter Kratzer lief über ihre nackte Schulter und den Arm hinunter.
»Perenelle«, keuchte Nicholas mit rauer Stimme.
Und dann sahen sie es. Eine Gestalt kam langsam über den Felsenkorridor auf die Zauberin zu. Josh hatte so etwas noch nie gesehen. Sie war schön und gleichzeitig grauenvoll und ungefähr so groß wie er. Während das runde Gesicht mit den roten Wangen das eines gesunden jungen Mannes war, schien der Körper nur aus Knochen zu bestehen, die sich deutlich unter der grauweißen Haut abzeichneten. Mit Klauen, die eine Mischung aus Menschenfüßen und Vogelkrallen darstellten, klackte er über den Boden und die Nägel an den
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