Nicholas Flamel Bd. 3 Die mächtige Zauberin
Träne und rollte ihr über die Wange. »Ich werde heute hier sterben, vergiftet von den Bindesymbolen, und werde nie mehr den Himmel sehen.«
Perenelle beobachtete, wie die schwarze Träne vom Kinn der Morrigan tropfte. In dem Augenblick, in dem sie keine Berührung mehr mit ihrer Haut hatte, verwandelte sie sich in eine schneeweiße Feder, die sacht zu Boden schwebte. »Vielleicht schickt Dee jemanden, der dich rettet.«
»Das bezweifle ich.« Die Krähengöttin hustete. »Wenn ich sterbe, ist das für ihn nichts weiter als eine Unannehmlichkeit. Er bekommt von seinem Gebieter einen neuen Diener zugewiesen und ich bin vergessen.«
»Wie es aussieht, hat der Magier uns beide betrogen«, flüsterte Perenelle. Wieder rollte eine schwarze Träne über die Wange der Göttin und verwandelte sich in eine weiße Feder, als sie vom Kinn tropfte. »Morrigan … Ich wünschte … Ich wünschte, ich könnte dir helfen«, bekannte Perenelle. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich dir trauen kann.«
»Das kannst du natürlich nicht. Wenn du mich jetzt befreist, vernichte ich dich. Das liegt in meiner Natur.« Ihre blasse Haut hatte sich inzwischen intensiv blaugrün verfärbt und auf ihrer Stirn und den Wangen waren winzige Pickel erschienen. Sie begann, sich im Netz herumzuwerfen. Schwarze Federn lösten sich aus dem Umhang und fielen auf den kleinen Berg weißer Federn auf dem Boden zu ihren Füßen. »Die Zeit zu sterben ist gekommen …« Ihre Augen, schwarz und leer, öffneten sich weit, dann ringelten sich langsam, ganz langsam rote und gelbe Spiralen darüber und ließen sie in einem blassen Orange erscheinen. Nach einem tiefen, zittrigen Atemzug schloss sie die Augen und rührte sich nicht mehr.
»Morrigan?«, flüsterte Perenelle.
Keine Reaktion.
»Morrigan?« Obwohl die Zauberin über Generationen hinweg mit diesem Wesen verfeindet war, empfand sie ihren Tod als Schock, und sie war entsetzt darüber, dass sie dabeigestanden und es zugelassen hatte, dass eine Legende starb.
Plötzlich öffnete die Morrigan die Augen wieder. Sie waren jetzt nicht mehr schwarz, sondern leuchtend rot, die Farbe von frischem Blut.
»Morrigan …?« Perenelle trat einen Schritt zurück.
Die Stimme, die aus dem Mund der Krähengöttin kam, klang etwas anders als vorher. Spuren eines irischen oder schottischen Akzents waren deutlich herauszuhören. »Die Morrigan schläft jetzt … Ich bin die Badb.«
Die Augen schlossen sich langsam und öffneten sich dann wieder. Jetzt waren sie strahlend gelb.
»Und ich bin Macha.« Der keltische Akzent kam sogar noch stärker durch und die Stimme war dunkler, rauer.
Die Augen schlossen sich erneut, und als sie sich wieder öffneten, war eines rot, das andere gelb. Zwei Stimmen kamen, nicht ganz synchron, aus demselben Mund.
»Und wir sind die Schwestern der Morrigan.« Das rote und das gelbe Auge blickten auf die Zauberin herunter. »Lass uns miteinander reden.«
K APITEL Z WEIUNDDREISSIG
I ch dachte, ihr wärt beide tot«, sagte Perenelle Flamel. Sie wusste, dass sie eigentlich Angst haben müsste, doch alles, was sie empfand, war Erleichterung. Und Neugier.
Die tanzende Flammenzunge über ihrem Kopf warf ein scharfes Licht auf die dunkle Gestalt der Krähengöttin, die in dem riesigen Netz gefangen war. Aus dem grünlich schimmernden Gesicht mit den Pickeln blickten ein rotes und ein gelbes Auge auf die Zauberin herunter, und wenn die schwarzen Lippen sich bewegten, redeten zwei Stimmen auf einmal. »Sie schläft – vielleicht. Aber tot ist sie nicht.«
Perenelle nickte. So abwegig war die Vorstellung nicht. Sie war in einer Welt voller Geister aufgewachsen, sah die Toten täglich und redete oft mit ihnen, und deshalb wusste sie, dass die Stimmen, die da aus dem Mund der Morrigan kamen, nicht die von Geistern waren. Das hier war etwas anderes. Sie versuchte, sich zu erinnern, was sie schon einmal über die Krähengöttin gewusst hatte. Sie gehörte zur Nächsten Generation, geboren nach dem Untergang von Danu Talis. Sie hatte sich in dem Gebiet niedergelassen, das später einmal Irland und Großbritannien genannt werden sollte, und die Kelten hatten sie schon früh als eine Göttin verehrt, die für Krieg, Tod und Gemetzel stand. Wie viele aus der Ersten und Nächsten Generation war sie eine dreifaltige Göttin, das heißt, sie besaß drei Aspekte. Einige Erstgewesene alterten sichtbar im Lauf der Zeit – Hekate zum Beispiel war dazu verdammt gewesen, sich jeden Tag aufs Neue
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