Nicholas Flamel Bd. 3 Die mächtige Zauberin
intuitiv. Sie folgte immer ihrem Instinkt, der sie nur selten im Stich ließ. Falls sie sich jetzt irrte und die Krähengöttin sie angriff, hoffte sie, dass ihre Kräfte im Verein mit dem tödlichen Speer sie erfolgreich gegen das Wesen schützen konnten.
»Dann gebt mir euer Wort«, verlangte sie.
»Du hast es«, raunten die beiden Stimmen. »Wir werden dir nichts tun. Wir stehen in deiner Schuld und es ist eine Ehrenschuld.«
»Schließt die Augen«, befahl Perenelle. Sie trat vor und hob den Speer zum Netz. Lange grauweiße Rauchfahnen stiegen senkrecht in die Höhe, und im Netz zischte und brutzelte es, als sie die Speerspitze gegen die klebrigen Fäden drückte. Sie versuchte, die Fäden, mit denen die Krähengöttin auf das Netz gebunden war, möglichst vorsichtig zu lösen, doch dann fiel ihr ein, dass das Wesen praktisch unempfindlich war gegen Schmerz. Der Speer beschrieb ein großes X und schnitt durch das Netz, und die Göttin plumpste, ohne einen Laut von sich zu geben, auf den Boden. Sie hing jetzt zwar nicht mehr am Netz, war aber immer noch fest mit Spinnfäden umwickelt.
Das rote und das gelbe Auge öffneten sich. »Vorsichtig, Zauberin«, murmelte die Krähengöttin, als Perenelle sich mit dem Speer näherte, den sie mit beiden Händen hielt. Der Blick war auf die rauchende Spitze gerichtet. »Wenn du uns damit verletzt, könnte das tödlich für uns sein.«
»Ich werde aufpassen«, versprach die Zauberin. Behutsam schnitt sie den fast unsichtbaren Kokon auf, schälte ihn dann ab und befreite die Krähengöttin.
Die sprang auf und wischte klebrige Spinnfäden von ihrem ledernen Brustharnisch. Dann reckte sie sich. Das Leder knarrte, als sie weit die Arme ausbreitete und den Rücken durchdrückte. »Ach, wie ist es schön, wieder lebendig zu sein«, raunten beide Stimmen gemeinsam.
»Besteht die Gefahr, dass die Morrigan zurückkommt?«, fragte Perenelle, während sie sich aufrichtete. Sie achtete darauf, dass ihr der Speer nicht entglitt und sie ihn jederzeit gegen die Krähengöttin einsetzen konnte.
Aus roten Augen wurden gelbe, dann wieder rote. »Wir halten unsere kleine Schwester unter Kontrolle.« Dann fuhr der Kopf herum und die Augen blickten auf etwas hinter Perenelles Rücken.
Noch während sie sich umdrehte, fragte sie sich, ob sie wohl auf den ältesten aller Tricks hereinfiel.
Juan Manuel de Ayala schwebte im Eingang zur Zelle. Augen und Mund des Geistes waren leere Höhlen und lange, gewellte Stränge seiner Wesenheit wehten wie eine Fahne im Wind hinter ihm her.
»Was gibt es?« Perenelle war sofort klar, dass etwas nicht stimmte. Sie schwenkte den Speer herum, und der Geist nahm für kurze Zeit feste Gestalt an, als er auf die glühende Metall-spitze schaute. »Ärger?«
»Nereus ist da.« Die Stimme des Geistes war vor Entsetzen ganz hoch. »Der alte Mann aus dem Meer ist gekommen.«
»Wo ist er?«, fragte Perenelle.
»Hier!« , rief der Geist, drehte sich um und zeigte mit dem linken Arm in den dunklen Korridor. »Er ist gerade am Ende des Tunnels aus dem Wasser gestiegen. Er kommt und holt dich!«
Und dann wehte auch schon der Gestank von verwestem Fisch und ranzigem Tran durch den Tunnel.
K APITEL D REIUNDDREISSIG
G rellrote Flammen schossen brüllend hinauf in die Nacht. Es knackte, Funken sprühten und schmutzig brauner, öliger Qualm waberte über dem Autofriedhof. John Dee warf den Kopf in den Nacken und atmete tief ein, doch er roch lediglich verbranntes Gummi und Öl, keine Spur von Magie. »Ich gehe hinein«, sagte er mit einem Blick auf Bastet.
»Das würde ich dir nicht raten«, warnte die Göttin mit dem Katzenkopf.
»Warum nicht?«
Bastet bleckte die Zähne – was man mit einigem guten Willen als furchterregendes Lächeln hätte auslegen können – und zog den langen schwarzen Mantel enger um die mageren Schultern. »Es wäre doch schade, wenn einer von der Wilden Jagd dich für einen Feind halten oder der Archon dich seinem Rudel eingliedern würde. Er hat heute Nacht Wölfe verloren. Die wird er ersetzen müssen.«
»Ich bin nicht gänzlich hilflos, gnädige Frau«, erwiderte Dee und zog Excalibur, das Steinschwert, unter seinem Mantel hervor. Mit raschen Schritten überquerte er die Straße. Vor dem schweren Tor zum Autofriedhof blieb er stehen. Die Zähne an der Keule des Archon hatten Löcher in die dicken Metallplatten geschlagen und an einer Stelle war ein Riss entstanden. Dort war das Metall aufgebogen und zerknüllt worden wie Alufolie.
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