Nicholas Flamel Bd. 4 Der unheimliche Geisterrufer
zuzog. Bestimmt wurde sie fuchsteufelswild, wenn sie feststellte, dass er gegangen war. Wahrscheinlich würde sie seine Eltern anrufen, und er hatte keine Ahnung, wie er sein Verschwinden später erklären sollte.
Aber eines wusste er sicher: dass er nicht ohne seine Schwester zu dem Haus in Pacific Heights zurückkehren würde.
KAPITEL ACHT
A gnes hörte die Haustür ins Schloss fallen und lief hinaus auf den Flur. Sie blickte blinzelnd zur Tür, legte dann den Kopf schräg und lauschte. »Josh?«
Im Haus war alles still.
»Josh?«, rief sie noch einmal so laut, dass ihre Stimme sich fast überschlug. »Wo ist der Junge nur?«, murmelte sie vor sich hin. Dann rief sie noch einmal: »Josh! Du kommst jetzt sofort hier runter!«
Keine Antwort.
Die alte Dame wollte gerade noch einmal kopfschüttelnd die Treppe hinaufsteigen, als etwas unter ihren Schuhen knirschte. Mühsam bückte sie sich und hob es vom Boden auf. Es war ein harter, eingetrockneter Batzen Dreck. Agnes blickte mit zusammengekniffenen Augen die Treppe hinauf. Als sie vor wenigen Minuten heruntergekommen war, war sie noch makellos sauber gewesen, doch jetzt lagen bis hinauf in den ersten Stock praktisch auf jeder Stufe diese Dreckklumpen. Jemand war nach ihr mit schmutzigen Schuhen heruntergekommen. Mit einem Ruck drehte sie den Kopf und sah auch auf dem Flurboden die verräterischen Schmutzspuren, die direkt zur Tür führten.
»Josh Newman«, flüsterte sie. »Was hast du getan?«
So schnell ihre arthritischen Beine es erlaubten, lief sie die Treppe hinauf und stieß, ohne anzuklopfen, die Tür zu Joshs Zimmer auf. Sofort fielen ihr die schmutzigen Kleidungsstücke auf, die er in den Wäschekorb gestopft hatte, und die dreckigen Turnschuhe unter dem Bett. Sie öffnete den Schrank und sah mit einem Blick, wo die Wanderschuhe gestanden hatten.
Darauf stellte sie sich in die Mitte des Zimmers und drehte sich langsam einmal um ihre eigene Achse. Etwas Seltsames lag in der Atmosphäre, das spürte sie deutlich. Nicht alle ihre Sinne waren mehr so ausgeprägt wie früher; mit dem Alter hatten ihre Sehkraft und das Gehör nachgelassen … Doch ihr Geruchssinn war noch so gut wie eh und je. In der trockenen Zimmerluft hing der süße Duft von Orangen.
Die alte Dame seufzte und fischte ihr Handy aus der Tasche. Sie freute sich nicht darauf, Richard und Sara Newman gestehen zu müssen, dass ihre Kinder verschwunden waren. Schon wieder.
Als Aufpasserin hatte sie kläglich versagt …
KAPITEL NEUN
I ch rieche noch überall Dees Schwefelgestank!« Unwillig runzelte Perenelle die Stirn. Sie hatte geduscht und frische Kleider angezogen: blaue stonewashed Jeans, eine wunderschön bestickte Bluse aus ägyptischer Baumwolle und ein Paar Stiefel, die ein Schuhmacher in New York 1901 für sie angefertigt hatte. Das immer noch feuchte Haar hatte sie aus dem Gesicht gekämmt und in einem dicken Pferdeschwanz zusammengefasst. Sie nahm einen schweren Wollpulli aus der Schublade einer mit Schnitzereien verzierten Kommode, drückte das Gesicht hinein und atmete tief ein. »Puh! Faule Eier!«
Flamel nickte. Auch er hatte geduscht und sich umgezogen und trug jetzt wieder eine seiner fast identischen Kombinationen aus schwarzer Jeans und schwarzem T-Shirt. Dieses Shirt hatte das ikonenhafte Dark-Side-of-the-Moon -Design vorne drauf. »Alles Organische beginnt zu modern«, sagte er und hielt ein T-Shirt mit grässlichem Batikmuster hoch. Es war angeschimmelt und die untere Hälfte hatte sich praktisch aufgelöst und bestand nur noch aus sich ringelnden Fäden. Während er es noch hochhielt und betrachtete, fiel ein Ärmel ab. »Das hab ich mir in Woodstock gekauft!«
»Hast du nicht«, widersprach Perenelle. »Du hast es vor rund zehn Jahren in einem Vintage-Geschäft auf dem Ventura Boulevard erstanden.«
»Oh!« Flamel hielt das kaputte T-Shirt erneut hoch. »Bist du sicher?«
»Ganz sicher. Du warst gar nicht in Woodstock.«
»Ach nein?« Flamel klang überrascht.
»Du wolltest nicht mehr hin, nachdem Jethro Tull abgesagt und Joni Mitchell seine Zusage wieder zurückgezogen hatte. Du hast gemeint, in diesem Fall sei es Zeitverschwendung.« Perenelle lächelte. Sie war mit dem Schloss eines schweren Überseekoffers beschäftigt, der am Fußende des Bettes stand. »Das hast du sogar mehrfach wiederholt.«
»Wieder etwas, worin ich mich getäuscht habe.« Er blickte sich im Schlafzimmer um und stemmte dann den Fuß auf den Dielenboden. »Ich glaube, wir sollten
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