Nicholas Flamel Bd. 4 Der unheimliche Geisterrufer
schon jetzt einen Marathon gelaufen, und ein Ende war noch immer nicht in Sicht. Sie hatte Seitenstechen und ihre Wadenmuskeln begannen zu krampfen. Außerdem spürte sie, dass sie in ihren Stiefeln Blasen bekam. »Ich muss mich bald ausruhen«, sagte sie. »Und Wasser brauche ich auch.«
Scatty zeigte nach rechts. »Da unten ist ein Bach.«
Johanna sah nichts. »Woher willst du das wissen?«
»Schau unter dich«, sagte Scatty und zeigte mit dem Finger auf den Boden. Die Erde war voller Huf- und Pfotenabdrücke, die alle nach rechts gingen.
»Wenn da unten ein Wasserloch ist, ist bestimmt auch einer da, der trinkt«, sagte Johanna.
»Wie durstig bist du?«
»Sehr.«
Scathach zog beide Nunchakus aus ihren Hüllen und folgte den Tierspuren nach rechts. »Dann besorgen wir dir jetzt etwas zu trinken. Und ich verspreche dir, dass ich nichts töte, was nicht zuerst versucht hat, mich zu töten.«
Der Pfad führte in eine Senke und das Gras, das bisher hüfthoch gewesen war, reichte ihnen nun bis zu den Schultern. Es raschelte laut, wenn die Halme aneinander entlangstrichen. In der Luft lag der süße, intensive Geruch von Leben und Wachstum. Ohne den kühlen, nach Zitrone duftenden Wind stieg die Temperatur sofort beträchtlich an.
Scathach hob die Hand und Johanna blieb stehen, drehte sich rasch um und sah hinter sich. Die Schattenhafte stellte sich Rücken an Rücken zu ihrer Freundin. »Sei vorsichtig«, sagte sie in dem alten Französisch, das Johanna in ihrer Jugend gesprochen hatte. »Irgendetwas stimmt hier nicht.«
Johanna nickte. »Wir sehen nichts in dem hohen Gras, unser Geruchssinn ist überlastet und selbst unser Gehör ist beeinträchtigt. Zufall?«
»Ich glaube nicht an Zufälle.« Scatty steckte die Nunchakus in ihre Hüllen zurück und zog die beiden Kurzschwerter. »Irgendetwas stimmt hier nicht«, wiederholte sie, »ganz und gar nicht.«
Vorsichtig gingen sie weiter, da ihnen klar war, dass sie bei eingeschränkter Sicht und beeinträchtigtem Hör- und Riechvermögen im Nachteil waren. In dem hohen Gras konnte sich alles Mögliche verstecken.
»Schlangen«, sagte Johanna plötzlich.
Scatty wirbelte herum. »Wo?«
»Nirgendwo. Mir ist nur gerade aufgefallen, dass wir noch keine gesehen haben, seit wie hier sind. Dabei sollte es nur so davon wimmeln, vor allem hier im Grasland. Das bietet ideale Bedingungen für sie.«
Nach einem halben Dutzend Schritten endete das Gras plötzlich. Direkt vor ihnen lag ein glitzernder blauer Tümpel. Das unbewegte Wasser spiegelte am Himmel stehende weiße Wolkenstreifen.
Und auf einem Felsen am Ufer des Flusses saß ein Mann, eingehüllt in einen langen ledernen Umhang mit hochgeschlagener Kapuze. Er wandte sich ihnen zu und sie sahen, dass die untere Hälfte seines Gesichts von einem Schal verdeckt war, der lediglich zwei strahlend blaue Augen frei ließ.
»Scathach die Schattenhafte und Johanna von Orléans. Wo wart ihr? Ich warte schon so lange auf euch. Willkommen in meiner Welt.« Der Mann mit dem Kapuzenumhang erhob sich, und als er die Arme ausbreitete, sahen sie den gebogenen Metallhaken, der seine rechte Hand ersetzte.
KAPITEL VIERUNDVIERZIG
S ophie öffnete die Augen und Joshs Gesicht tauchte verschwommen vor ihr auf. Sie sah die Erleichterung, die sich in seinen Zügen spiegelte. Seine blauen Augen glänzten plötzlich feucht.
»Hi, Schwesterherz«, flüsterte er, doch seine Stimme zitterte. Er hustete und versuchte es noch einmal. »Hi, Schwesterherz, wie fühlst du dich?«
Sophie atmete langsam und tief ein, während sie über seine Frage nachdachte. Sie fühlte sich … ja, doch, sie fühlte sich gut. Nicht nur gut; sie fühlte sich großartig – hellwach, stark und völlig klar im Kopf. Sie setzte sich auf und blickte sich um. Sie hatte auf einer schmalen Couch in einem winzigen, vollgestellten Raum gelegen, der aussah, als sei er irgendwann in den 60er Jahren eingerichtet worden. An den Wänden hing eine scheußliche braune Tapete mit roten und schwarzen Kreisen, die zu den Vorhängen und dem braunen Linoleumboden passte. Auf einem kleinen Küchentisch lag eine leuchtend rote Plastiktischdecke und nur zwei der vier Stühle passten zusammen. Der Raum war düster und die Luft roch verbraucht, so als sei er lange nicht benutzt worden. Licht kam lediglich von einer einzigen, mit Spinnweben behängten Lampe auf einem Tisch in der Ecke.
»Mir geht es gut«, sagte sie, stand auf und trat ans Fenster. Überrascht stellte sie fest, dass es
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