Nicholas Flamel Bd. 4 Der unheimliche Geisterrufer
überraschte ihn nicht. »Die Hexe muss sich aber an Perenelle erinnern.«
»Stimmt. Sie hat zehn Jahre bei ihr gelebt.«
»Und du kannst dich an nichts aus dieser Zeit erinnern?«, fragte Josh ungläubig.
»An gar nichts.« Sophie runzelte die Stirn. »Es sind Erinnerungen da – ich kann sie fast mit Händen greifen. Aber sobald ich versuche, mich darauf zu konzentrieren, sind sie wieder weg.«
»Wenn ich nur wüsste, weshalb das so ist«, murmelte Josh, während er wieder im Zimmer auf und ab ging.
»Ich mache mir keine Sorgen deshalb. Irgendwann fällt mir alles ein. Es ist erst eine knappe Woche her, seit Hekate mich erweckt und die Hexe mir ihre Erinnerungen übertragen hat. Ich glaube, das muss sich alles erst setzen.«
Josh blieb vor dem altmodischen Kühlschrank stehen, öffnete die Tür und lugte hinein. Flackerndes gelbes Licht strömte in das Zimmer. »Hältst du es für möglich, dass dich jemand vom Erinnern abhält?«, fragte er und bemühte sich so zu tun, als messe er der Frage keine besondere Bedeutung bei.
»Die Zauberin zum Beispiel?« Aus Sophies Gegenfrage waren hauchdünne Zweifel herauszuhören.
»Die Zauberin zum Beispiel«, bestätigte Josh. Er straffte die Schultern und wandte sich seiner Schwester zu. »Flamel sagt, dass die Erinnerungen der Hexe von dir Besitz ergreifen können. Perenelle behauptet, sie können es nicht. Aber du kannst dich nicht erinnern, was die Hexe über die Zauberin weiß. Das ist doch mehr als merkwürdig, findest du nicht auch?«
»Doch, das ist wirklich merkwürdig«, gab Sophie nervös zu. »Glaubst du, Perenelle lügt mich an?«
»Sophie, ich fürchte, dass alle uns anlügen. Denk dran, was Scatty gesagt hat: Traut niemandem …«
Sophie nickte und sie beendeten den Satz gemeinsam: »… außer euch.«
Josh schloss die Kühlschranktür wieder. »Völlig leer. Ich möchte mal wissen, was so ein Wesen des Älteren Geschlechts isst.«
»Die meisten essen gar nicht«, antwortete Sophie automatisch – und runzelte die Stirn. Warum fiel ihr das ein und nicht etwas Wichtigeres? »Sie haben einen anderen Stoffwechsel als die Humani.«
Josh wandte sich zu seiner Schwester um und unterbrach sie: »Das ist jetzt mal interessant.«
Sophie fuhr zusammen. Weshalb klang Josh plötzlich so wütend? »Was ist los?«
»Du hast die Menschen Humani genannt«, sagte er leise. »So hast du sie – uns – noch nie genannt.«
»Die Hexe hat sie so genannt.«
»Genau. Vielleicht ist es doch nicht Flamel, der sich irrt, sondern Perenelle?«
Sophie schüttelte den Kopf. »Ich glaube der Zauberin«, sagte sie bestimmt, und bevor ihr Bruder etwas darauf erwidern konnte, verschränkte sie die Arme vor der Brust, wandte sich ab und sah sich demonstrativ im Zimmer um. »Wo sind wir hier überhaupt?«, fragte sie.
Josh überlegte, ob er versuchen sollte, die Unterhaltung fortzuführen, doch er wusste aus Erfahrung, dass Sophie, wenn sie die Arme verschränkte und ihm den Rücken zuwandte, eine Entscheidung getroffen hatte. Falls er sie drängte, würde sie einen Streit vom Zaun brechen, und das war das Letzte, was er im Augenblick wollte. Er konnte nur hoffen, dass sie über das, was die Zauberin ihr sagte, in Zukunft etwas intensiver nachdachte.
»Im Haus von Prometheus auf der Halbinsel Point Reyes. Ich habe mich vorhin schon einmal kurz umgeschaut. Wir sind am Ende der Welt. Es gibt ein Haupthaus und ungefähr ein Dutzend kleiner Hütten darum herum. Wir sind in einer der Hütten, und ich kann nur sagen: Es ist ein Dreckloch.«
Er begann in Schubladen zu wühlen. In einer waren lauter unterschiedliche Messer, Gabeln und Löffel, allesamt matt und angelaufen, als seien sie seit Jahren nicht mehr benutzt worden. Eine andere Schublade war bis oben hin voll mit Geschirrtüchern. Josh zog eine Handvoll heraus. Sie waren angegraut und steif vom Alter und waren mit Bildern von Touristenattraktionen aus Städten in ganz Europa bedruckt: der Buckingham Palast in London, der Eiffelturm in Paris, das Brandenburger Tor in Berlin, der Königspalast in Madrid, die Akropolis in Griechenland und ganz zuunterst schließlich die Pyramiden in Ägypten.
Als Josh eines der Tücher auffaltete, tanzten feine Staubkörnchen durch die Luft. »Ich frage mich, wann hier zum letzten Mal jemand gewohnt hat«, sagte er.
Als ihn ein Schwall kalter Luft traf, drehte er sich um. Sophie hatte die Hüttentür geöffnet und war in die feuchte Abendluft hinausgetreten. Die Lichter von San Francisco
Weitere Kostenlose Bücher