Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
sie leise und öffnete die Augen wieder. Die finsteren Blicke der Anpu ignorierte sie. »Mir ist nur gerade eingefallen, dass wir seit Ewigkeiten kein richtiges Abenteuer mehr erlebt haben.« Sie seufzte. »Es wird wieder sein wie früher.«
Scathachs Lachen klang eher nach einem Knurren. Dieses Abenteuer war mit keinem ihrer bisherigen zu vergleichen, so viel stand fest. Sie und Johanna hatten entweder allein oder zu zweit gekämpft, um Königreiche und selbst Kaiserreiche zu retten, um Prinzen auf den Thron zu verhelfen und Kriege zu verhindern. Doch jetzt ging es um sehr viel mehr. Wenn sie Marethyu glauben konnten, kämpften sie nicht nur um die Zukunft der menschlichen Rasse, sondern um die aller Rassen in den vielen Tausend unterschiedlichen Schattenreichen.
Johanna rutschte auf ihrem Sitz hin und her, um eine bequeme Position zu finden. »Als Francis und ich letztes Jahr in Indien waren, haben wir in alten Manuskripten und eingraviert in Tempelwänden Bilder von diesen Flugapparaten gesehen. Francis hat mir erzählt, dass es in den frühen indischen Epen jede Menge Geschichten von fliegenden Schiffen gibt.«
»Stimmt«, bestätigte Scathach. »In babylonischen und ägyptischen Legenden kommen sie ebenfalls vor. Die Handvoll Vimanas, die beim Untergang von Danu Talis nicht auf der Insel waren, blieben heil. Meine Eltern hatten eines, auch wenn es mit denen hier nicht zu vergleichen war. Bis ich alt genug war, um unsere Maschine zu fliegen, war sie schon uralt. Sie war so oft repariert und zusammengeflickt worden, dass nichts mehr an ihren ursprünglichen Zustand erinnert hat. Und sie kam kaum noch vom Boden hoch.« Scatty schüttelte den Kopf und lächelte bei der Erinnerung daran. »Mein Vater hat mir einmal erzählt, dass er erlebt hat, wie der Himmel sich vor lauter Kampf-Vimanas verdunkelt hat, als die Flotte zu ihrem Einsatz flog, um die letzten Erdenfürsten zu bekriegen …«
Scathachs Stimme war immer leiser geworden. Sie sprach selten von ihren Eltern und nie von sich aus. Sie sah sich als Einzelgängerin und war so lange vogelfrei gewesen. Aber sie hatte Familie – eine Schwester im Schattenreich Erde, die sie jedoch nie sah, sowie ihre Eltern und einen Bruder. Diese drei lebten in einem entfernten Schattenreich, das dem der verlorenen Welt von Danu Talis nachgebildet war. Jetzt war sie in der Zeit zehntausend Jahre zurückgegangen, und es war ein seltsames Gefühl, dass ihre Eltern – genau in diesem Moment – in der Stadt direkt unter ihr lebten. Der Gedanke traf sie fast wie ein echter Faustschlag und nahm ihr den Atem.
Und erstaunt stellte sie fest, dass sie sich gern mit ihnen getroffen hätte. Nein, mehr als das. Sie musste unbedingt wissen, wie sie vor ihrer Geburt und der ihrer Schwester gewesen waren. Die Zerstörung ihrer Welt hatte Scathachs und Aoifes Eltern verbittert und voller Wut zurückgelassen. Sie waren in einer Zeit aufgewachsen, in der sie die unangefochtenen Herren waren. Als die Insel sank, war damit Schluss. Schon in den ersten Stunden nach dem Untergang von Danu Talis war klar gewesen, dass es keine Herren und Diener mehr geben würde, keine Großen Älteren und keine Älteren. Nur noch Überlebende.
Scathach und ihre Schwester hatten schon als Kinder schnell gemerkt, dass ihre Eltern sie ablehnten, weil sie nach dem Untergang der Insel geboren wurden. Die Zwillingsmädchen waren die Ersten der »nächsten Generation«, wie sie später genannt wurde. Später, sehr viel später waren Aoife und Scathach zu der Überzeugung gelangt, dass ihre Eltern sich ihrer schämten. Die Mädchen waren mit dem Wissen aufgewachsen, dass ihr älterer Bruder, geboren auf Danu Talis, mit seiner hellen Haut und dem leuchtend roten Haar der Liebling ihrer Eltern war. Im Gegensatz zu den Zwillingen war er ein Älterer.
Scathachs Magen hob sich, als das Flugschiff vorne abkippte und fast senkrecht zur Stadt hinunterflog.
Sie wollte sie sehen. Und wenn es nur für einen Moment wäre. Sie wollte wissen, wie ihre Eltern und ihr Bruder waren, bevor die Insel sank. Denn in den vielen Tausend Jahren, die seit ihrer Kindheit vergangen waren, hatte sie sie nicht ein einziges Mal lachen oder lächeln sehen. Und wenn sie von anderen sprachen, selbst von Älteren, dann immer nur mit Bitterkeit. Ihr Zorn hatte sich in ihren Körpern niedergeschlagen, sie gebeugt, verkrüppelt und hässlich gemacht. Nur für einen einzigen Moment wollte Scathach sie sehen, als sie jung und schön waren. Sie musste
Weitere Kostenlose Bücher