Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
wie im Westen die Begegnung mit Hannah Arendt über Jahrzehnte hinweg zu häufig dem Zeitgeist geopfert und die große politische Bedeutung ihrer Arbeiten unterschätzt wurde. Ich denke, mit vollem Recht gibt es nach dem Zusammenbruch des Kommunismus eine Hannah-Arendt-Renaissance.
Nun will ich aber meinen Blick richten auf jenes Problem der deutschen Geschichte, das der Erinnerung und der Durcharbeitung in besonderer Weise bedarf – den Umgang mit der Vergangenheit. Es ist von herausragender Bedeutung für die Geschichte des Demokratieprojektes. Auch die Berliner Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan ist in ihrem Buch Politik und Schuld der Frage nachgegangen, wie sich Schuld auf die politische Demokratie auswirkt und welche Möglichkeiten es gibt, in bestimmten politischen und historischen Situationen ihren destruktiven Folgen zu begegnen und sie zu überwinden.
Sicher hätten auch viele bei uns in den Debatten nach 1989 eine Option vorgezogen, die unter Zuhilfenahme des Begriffs der Versöhnung eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit vermieden hätte. Doch es kommt eben sehr genau darauf an, was unter dem Begriff »Versöhnung« verstanden wird und dass nicht legitimiert wird, was der große Theologe und Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime, Dietrich Bonhoeffer, als billige Gnade bezeichnen würde. Versöhnung ist zwar etwas, das vielen Deutschen am Herzen liegt. Dass es aber nicht zu einem Schlussstrich gekommen ist, hat nach meiner Auffassung zwei Gründe: einen östlichen Grund und einen westlichen Grund.
Zunächst der östliche Grund: Anders als in Spanien am Ende der Franco-Diktatur und in manchen Ländern des Ostblocks, wie in Polen oder Ungarn, aber auch in Südafrika, hatten wir in Deutschland keine negotiated revolution , keine verhandelte Revolution, sondern – obgleich revolutionsungewohnt – am Ende doch so etwas wie eine richtige Revolution, die ein ganzes Regime zu Fall brachte.
Das mögen viele Mehrheitsdeutsche im Westen vielleicht nicht gerne hören, und sie sprechen von »Wende«, ja einige Gebildete auch von Implosion. Der Vorteil dieser Redeweise besteht nach meiner Überzeugung allein darin, dass man dann kein revolutionäres Subjekt mehr hat, dem man dankbar sein müsste für die politischen Aktivitäten, die den Umbruch zustande brachten. Die häufig vorgebrachten Gründe für den Zusammenbruch der DDR – wie zum Beispiel: der Wirtschaft sei es schlecht ergangen, der politischen Elite sei nichts mehr eingefallen, in Moskau habe die Politik der Perestroika von Michail Gorbatschow den Auflösungsprozess beschleunigt und mit einem Schlag sei dann einfach die Mauer gefallen –, all diese Argumente möchten den subjektiven Faktor in der Geschichte ausklammern und ein Weltbild suggerieren, als spielten bei den politischen Umwälzungen die Beteiligung und die Aktivitäten der Bevölkerung kaum eine Rolle.
Deutschland ist gewiss kein Land mit einer großen Tradition von Freiheitsrevolutionen. Doch wurde immerhin eine Macht gestürzt, die vierzig Jahre im imperialen Gestus herrschte. Im Herbst/Winter 1989 kam es mit der Besetzung der Bastionen der Geheimpolizei der SED am 4., 5. und 6. Dezember 1989 in der Fläche und etwas verspätet in Berlin am 15. Januar 1990 zu einem revolutionären Höhepunkt. Die Erstürmung der Zwingburgen einer Geheimpolizei, wie es sie in dieser Größenordnung in Deutschland vorher noch nicht gegeben hatte, war durchaus ein revolutionärer Akt.
Wenn ich hier mit der Politikwissenschaftlerin Sigrid Meuschel daher bewusst den Begriff der Revolution verwende, dann nicht, um einem falsch verstandenen Heroismus zu frönen. Ich bin mir durchaus im Klaren darüber, dass das Gros der Bevölkerung zunächst einfach in den Westen fahren wollte, um Verwandte zu besuchen oder einzukaufen oder eine neue Konsumwelt zu erleben. Viele der Ostdeutschen wollten ihr Land erst einmal nur schöner machen oder, um in Abwandlung einen Satz unseres ehemaligen Ideologiechefs Kurt Hager zu verwenden, schöne neue Tapeten haben, ähnlich wie in Moskau, nur noch etwas schöner.
Aber es gab zur selben Zeit einen wachsenden Teil der Bevölkerung, der jenseits des Vorstellbaren die Angst vor der Unterdrückung für den Augenblick überwand und zur entschiedenen Aktion schreiten konnte. Gerade diese Überwindung der Angst war eine für beide Seiten – für die Machthaber wie für die Akteure der Befreiung – eine verblüffende Erfahrung.
Denn obwohl diese Angst immer
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