Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
noch so groß sein konnte, dass sich manchmal bei der verabredeten Besetzung der Stasi-Zentralen am Ende keiner traute, tatsächlich mitzugehen, kam es gelegentlich doch zu erregenden Szenen. Ich will Ihnen dazu ein etwas skurriles, aber reales Beispiel aus einer westmecklenburgischen Kleinstadt berichten. Dort war zum verabredeten Zeitpunkt niemand erschienen außer der Theologin Regine Marquardt, der späteren Kultusministerin in Mecklenburg-Vorpommern. Als sie sah, dass die beabsichtigte Besetzung der MfS-Dienststelle nicht zustande kommen würde, wollte sie der örtlichen Stasi-Führung wenigstens ihre Entmachtung ankündigen. Sie begehrte also Einlass, sagte, sie käme vom »Neuen Forum« und wolle den Chef sprechen. Es war immerhin schon Dezember 1989, auch bei der Stasi fürchtete man sich bereits ein bisschen vor dem Volk und ließ diese Frau zum Verantwortlichen vor. Als sie vor ihm stand, verkündete sie: »Hiermit möchte ich Ihnen mitteilen, dass die Arbeit der Staatssicherheit in unserer Stadt nunmehr beendet ist.« Sie hatte schon befürchtet, unmittelbar danach verhaftet zu werden, aber es passierte genau das Gegenteil. Der völlig verdatterte Offizier nahm seine Dienstwaffe ab und überreichte sie ihr.
Mit ähnlicher Zivilcourage haben zunächst wenige, dann viele Menschen in Ostdeutschland die Gesellschaft verändert. Jene, die uns lange beherrscht hatten, ohne uns jemals in freien, gleichen und geheimen Wahlen nach unserem Willen zu fragen, sollten endlich entmachtet werden. Das wurde in linksprotestantischen Kreisen zuweilen als Grausamkeit ausgelegt, aber man macht schließlich keine Revolution, damit hinterher wieder alle an ihre Plätze zurückkehren und weiterhin tun können, was sie vorher auch gemacht haben – zum Unheil des unterdrückten Volkes.
Und damit komme ich zum zweiten Grund, nämlich dem westlichen Grund, weshalb die Umwälzung der DDR-Gesellschaft nicht bei einer Schuld nivellierenden Lösung stehen bleiben konnte.
Es sollte nicht wieder so sein wie nach dem Ende der Naziherrschaft, als die Unterdrückten und Überlebenden wie Bettler vor verschlossenen Archivtüren standen, weil die Persönlichkeitsrechte der Täter mehr galten als die geraubte Würde, die Freiheits- und Persönlichkeitsrechte der Verfolgten.
Der Bochumer Zeitgeschichtler Norbert Frei hat in seinem Buch Vergangenheitspolitik mit aller Gründlichkeit diese Phase der Nachkriegspolitik in Westdeutschland analysiert: Wie abwertend Deutsche über die sogenannte Siegerjustiz der Alliierten urteilten, wie schnell Nationalsozialisten aus der zweiten Reihe wieder in Amt und Würden kamen, mit welcher Nachsicht Nazigrößen in Gerichtsverfahren rechnen konnten.
Damals schien das Vergessen und Verdrängen die angesagte Politikform zu sein, und der Philosoph Hermann Lübbe hat aus seiner Sicht respektable Gründe dafür vorgebracht, dass ein »Beschweigen« bestimmter politischer Fakten auch nützlich sein könne. Denn es steht wohl außer Zweifel, dass die Bundesrepublik einen zwar langsamen, aber doch deutlichen Weg in die Demokratie genommen hat und aus ehemaligen Parteigenossen Bürger einer Demokratie wurden. Nach individueller Verstrickung zu fragen, blieb in den ersten Nachkriegsjahrzehnten eine Sache von Minderheiten.
So schreibt zum Beispiel der antifaschistische Widerstandskämpfer und Emigrant Fritz Bauer, der als hessischer Generalstaatsanwalt insbesondere in den von ihm initiierten Frankfurter Auschwitz-Prozessen Nazitäter zur Verurteilung brachte, in seinen eigenen Justizgebäuden habe er sich gelegentlich wie in Feindesland gefühlt.
Dass die Abwehrfront gegen eine Besichtigung der Vergangenheit bis weit in die sechziger Jahre politisch so stabil und funktionstüchtig bleiben konnte, war einem breiten Bündnis von unterschiedlichsten politischen Lagern geschuldet. Wir können geradezu sagen, dass auf die neurotische Schuldverstrickung der Deutschen eine neurotische Art des Beschweigens folgte. Alexander und Margarete Mitscherlich erklärten die Abwehr mit der großen Selbstentwertung, die die Deutschen erlitten, als Hitler, ihr Ich-Ideal, wegbrach. Statt sich der Realität zu stellen, verdrängten sie Schuld, Scham und Trauer – und eben dies, eine neue Schweigepolitik, durfte es nach 1989 nicht mehr geben. Denn die Verdrängung brach schließlich auf und brachte den Versuch der »Schlussstrich«-Politik zum Scheitern.
Die Achtundsechziger-Bewegung wollte Schuld und Leiden bearbeiten, für die sie
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