Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
wird? Dazu zählen trotz der Wessi-Witze auch so manche Wessis. Allen voran die Intellektuellen, die – mit den letzten Resten überkommener Glaubenssicherheit ausgestattet – den Ossis noch einmal die Welt erklären, die Schlechtigkeit des Westens im Allgemeinen und die Bösartigkeit des Kapitalismus im Besonderen – mithin die ganze Ausweglosigkeit unserer Existenz. Ich nenne sie gern unsere »Verständnis-Wessis«.
Sie nützen uns aber wenig, weil ihre selektive Wahrnehmung unserer eigenen selektiven Wahrnehmung nicht abhilft. Und letztlich reagieren die Verständnis-Wessis so viel anders auch nicht als die Besser-Wessis aus den Witzen: Die Menschen im Osten werden zu Objekten ihres missionarischen Treibens – sei es nun in der Geste des zupackenden, erdrückenden Helfers oder in der des sensiblen Trösters. Der eine liefert die Vorlage für den Wessi-Witz, der andere lacht mit. Was in solchen Witzen wieder hochkommt, ist altbekannt: Der durchschnittliche Westdeutsche ist höchst mittelmäßig, unmoralisch und geldgierig. Das glaubte zu DDR -Zeiten trotz pausenloser propagandistischer Berieselung bald keiner mehr. Jetzt wird es plötzlich bedeutungsvoll für viele. Der Kapitalismus klingt wieder bedrohlich.
Eben noch konnte es uns nicht schnell genug gehen mit dem harten Geld, der D-Mark. Eben noch waren wir die Bewunderer eines westlichen Lebensrezepts, das allen bessere Zeiten versprach und die Bundesrepublik so stark und stabil gemacht hatte. Eben noch konnte man sich umworben fühlen von Volksvertretern, die sich auch zu richtigen Wahlen stellten.
Jetzt, wo Zuspruch, Solidarität und Anerkennung so nötig wären, macht so mancher dieser westdeutschen Repräsentanten einen Bogen um ostdeutsche Gefilde. Dafür huldigen die Verständnis-Wessis einer »Befindlichkeit«, die besser hinterfragt werden sollte. Denn wenn sie dem Osten die Lage erklären, werden insbesondere jene Ossi-Köpfchen gekrault, die besonders unaufgeklärt und – dies ist noch schlimmer – besonders aufklärungsresistent sind.
Vor drei oder vier Jahren wurde die Ostalgie langsam, aber sicher ein unübersehbares Phänomen. Immer häufiger hörte ich einen Satz, den ich aus den fünfziger Jahren von Oma und allerhand Onkeln und Tanten kannte: »Es ist aber auch nicht alles schlecht gewesen beim Führer!« Es lohnt sich also, sich zu erinnern an das Erinnern. Wer alt genug ist, kennt drei Schlüsselworte für die zwölf braunen Jahre: »Autobahnen, keine Arbeitslosen, geringe Kriminalität«. Es war eben nicht alles schlecht.
Mein Déjà-vu-Erlebnis setzte bei einem bis in die Worte ähnlichem Erinnerungsgut ein: »Kindergärten, Vollbeschäftigung, geringe Kriminalität«. Hätte die SED auch nur eine Autobahn mehr gebaut – wir hätten möglicherweise dieselbe Trias wie nach dem Krieg. Ich habe mich und andere in diesen Jahren oft gefragt, was geschah. Erst kurz war doch der Abstand zu jener Zeit, als jedermann die ganze DDR samt Ideologie und Lebensalltag so gründlich satt hatte, dass wenige revolutionäre Wochen genügten, um das ganze System nach unserem Willen auf den Abfallhaufen der Geschichte zu befördern.
Wir wollten das bewährte Neue – das funktionierende westliche Politik- und Wirtschaftsmodell, das manchen Westlern bereits recht alt erschien. Aber gleichzeitig hat diese Umgestaltung in Umfang und Tempo die Seelen sehr, sehr vieler überfordert. Mit dem Weststaat und dem Westgeld und den Westregeln kamen eben nur bei Minderheiten Westgefühle. Schritt für Schritt wurde das Ja zur Einheit und zum freiheitlichen Gemeinwesen ergänzt und manchmal auch verdrängt durch Gefühle der Fremdheit und Unsicherheit. Menschen, die zwar frei, aber arbeitslos sind, müssen unzufrieden werden.
Aber warum geben dann bei diversen Meinungsumfragen regelmäßig Mehrheiten zu Protokoll, dass es ihnen so schlecht nicht geht? Nur was die allgemeine Entwicklung betrifft, so sei man eher unzufrieden – Ausdruck dessen sind die stetig sinkenden Zustimmungsraten zu zentralen Werten der Demokratie. Der Demokratie geht es in der öffentlichen Meinung des Ostens ähnlich wie dem Urteil über den Westler: Der Daumen senkt sich. Das sei natürlich, sagen seriöse Politiker der Opposition, PDS -Anhänger und politische Randgruppen gleichermaßen. Das sei die Folge der fehlerhaften und mangelhaften Strukturpolitik, der unzureichenden Führungsfähigkeit der Bundesregierung.
Ich traue dieser Analyse nicht über den Weg. Ich glaube, dass neben den
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